"Obdachlose werden in unserer Gesellschaft entweder kaum wahrgenommen - oder andere machen einen Riesenbogen um sie", sagt Willi Schönamsgruber, der die Chorprobe an diesem Tag leitet. Beim gemeinsamen Singen kommt es aber auf jede einzelne Stimme an. Plötzlich merken die Menschen, wie wichtig ihr eigener Part ist: "Das gibt ihnen den Selbstwert zurück."
So war es zum Beispiel bei "Nuschel, dem Captain", wie er von seinen Chor-Kollegen genannt wird. Als der große Mann mit Brille aus seinem Beruf als Binnenschiffer ausgestiegen war, lebte er zwei Jahre lang "mal hier, mal da" als Musiker auf der Straße. Zu dieser Zeit trank er bis zu zwei Flaschen Wodka am Tag, wie Nuschel erzählt: "Mein sehnlichster Wunsch war aber aufzuhören." Erst als er vor drei Jahren nach Hannover zog, fand er zur Therapie.
Der heute 63-Jährige wurde trocken und kam zunächst in Einrichtungen der Suchthilfe unter. Inzwischen hat er eine eigene Wohnung bezogen. Seine Freundin Manuela hat Nuschel im Chor kennengelernt. Zum Frühstück vor der Singprobe haben die beiden selbst gebackenen Apfelkuchen mitgebracht.
Chöre für Menschen ohne festen Wohnsitz entstanden in den 1990er Jahren in Großbritannien, Kanada, den USA und Australien. In Deutschland gründete der Pianist Stefan Schmidt 2009 in Berlin den ersten Straßenchor. Darin singen Prostituierte, Obdachlose, Kranke und Drogensüchtige. Heute zählt dieser bundesweit erfolgreichste Straßenchor rund 40 Mitglieder, die regelmäßig zu den Proben kommen. Sie führten unter anderem Carl Orffs "Carmina Burana" in der Berliner Philharmonie auf.