Startseite Archiv Tagesthema vom 20. August 2018

Wenn der Käfer aus dem Holzloch guckt

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Restauratorinnen retten Jahrhunderte alte Klosterschätze vor dem Verfall

Jesus hat mächtig gelitten, der ganze Körper ist mit Löchern übersät. Denn "Anobium punctatum" war sehr fleißig: Die Larven des "Gemeinen Nagekäfers" haben sich tief ins weiche Lindenholz der Jesusfigur gefressen. Über Jahrhunderte hing die Figur des Gekreuzigten hoch oben am Hauptaltar des Klosters Lüne in Lüneburg. Jetzt liegt sie mit einem weißen Stützkissen unter den Schultern auf einem Tisch in der Restaurierungswerkstatt der Klosterkammer Hannover. Restauratorin Kirsten Schröder (42) betrachtet die Oberfläche des Kunstwerks durch ein riesiges weißes Operationsmikroskop in bis zu 40-facher Vergrößerung: "Manchmal guckt noch ein Käfer aus einem Ausflugloch, der es nicht mehr rechtzeitig heraus geschafft hat." 

Durch akribische Feinarbeit sorgen Schröder und ihre Kolleginnen und Kollegen dafür, dass die manchmal arg angegriffenen Kunstschätze aus niedersächsischen Klöstern für die Nachwelt erhalten bleiben. Rund 12.000 Kunstgegenstände werden in den 17 Klöstern, Stiften und anderen Gebäuden der Klosterkammer in Niedersachsen verwahrt: Bilder und Skulpturen, kostbare Möbel oder vergoldete Kelche und Teller. Haben "Anobium punctatum" oder schlichtweg die Zeit allzu heftig an einem von ihnen genagt, kommt das Kunstwerk in die Restaurierungswerkstatt im Hauptgebäude der Klosterkammer in der hannoverschen Oststadt.

So wie die Jesusfigur aus Lüneburg: Das Werk eines unbekannten Schnitzers aus dem Renaissance-Zeitalter ist nicht nur von Insekten zerfressen, die im Volksmund Holzwürmer heißen, sondern wurde auch unfachmännisch aufgehängt. Dabei hat jemand ein Stück Draht in den nackten Rücken der Figur gebohrt, erzählt Kirsten Schröder, die sich zum Schutz vor Chemikalien und Farben einen weißen Kittel und türkisfarbene Plastikhandschuhe übergestreift hat. 

Schröder und ihre Kollegin Christiane Adolf (39) haben den Draht entfernt, das zerbrechliche Holz mit dem Pinsel gereinigt und mit Skalpell und Pinzette alte Verklebungen und Farbschichten abgelöst. Nach einer Behandlung gegen Holzschädlinge wurden Verbindungen an Armen und Beinen neu verleimt. "Jetzt geht es ihm wieder blendend." 

Für die Ausstellung "Schatzhüterin. 200 Jahre Klosterkammer Hannover", die im noch bis zum 12. August im Niedersächsischen Landesmuseum in Hannover läuft, sind etwa 170 Kunstwerke durch die Hände der Restauratoren gegangen. Jetzt sind andere Werke an der Reihe - so wie das großflächige Gemälde, das auf dem Nachbartisch ausgerollt ist. 

Äbtissin Catharina-Margaretha von Estorff (1590-1659) aus dem Kloster Lüne hat sich für das Bild auf dem Totenbett porträtieren lassen - aufgebahrt im weißen Hemd, verziert mit schwarzen Schleifen. "Das war nicht unüblich im 17. Jahrhundert", erzählt Schröder. "Sie ließ sich malen für die Ewigkeit." Der Künstler ist unbekannt. 

Die Restauratorin fand das vergessene Bild auf dem Dachboden des Klosters. "Es war in einem verheerenden Zustand." Das Gemälde war stellenweise gerissen, von Schimmelpilzen befallen und musste sorgfältig vom Kot von Tauben und Fledermäusen gereinigt werden. Doch der Zufallsfund ermöglicht spannende Blicke in die Vergangenheit: Denn einige Zeit zuvor war für Restaurierungsarbeiten die Gruft des Klosters geöffnet worden. Und zum Vorschein kam dabei unter anderem der mumifizierte Leichnam eben jener Äbtissin. 

Die Fachleute konnten nun das Kunstwerk von 1659 mit den sterblichen Überresten der Adeligen vergleichen. "Vom Kleid ist fast gar nichts mehr erhalten, man sah noch die Reste der Schleifen." Allerdings war eine der Schleifen über die Jahrhunderte vom Handgelenk zum Ellenbogen gerutscht.

Die Restauratorin hat die alte Leinwand vorsichtig ausgebessert und mit Hilfe von Fischleim stabilisiert, so dass das Bild wieder auf einen Rahmen gespannt werden kann. Wohin es einmal kommt? Das wird sich später klären: "Erst einmal geht es darum, das Bild zu retten."

Michael Grau (epd)

Klosterkammer Hannover

Die Klosterkammer Hannover ist eine Sonderbehörde zur Pflege von früheren Kirchengütern unter Rechtsaufsicht des niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur. Sie verwaltet unabhängig ein Stiftungsvermögen aus ehemals kirchlichem Besitz, der in und nach der Reformationszeit säkularisiert wurde. Dazu gehören 17 Klöster, 43 Kirchen, weitere rund 800 meist denkmalgeschützte Gebäude sowie etwa 12.000 Kunstgegenstände. Die 1818 gegründete Behörde feiert in diesem Jahr ihr 200-jähriges Bestehen.

Mit rund 38.000 Hektar Fläche, darunter 26.500 Hektar Wald, ist die Klosterkammer Hannover der größte nichtstaatliche Grundbesitzer in Niedersachsen und bundesweit der größte nichtstaatliche Waldbesitzer. Mit rund 16.700 Erbpacht-Verträgen ist sie zudem größter Ausgeber von Erbbaurechten in Deutschland.

Den Grundstock für die Klosterkammer legte Herzogin Elisabeth von Calenberg-Göttingen (1510-1558) im Jahr 1542. Mit einer Klosterordnung gab sie den entscheidenden Impuls dafür, dass die ehemals geistlichen Güter erhalten blieben und bis heute getrennt vom Staatsvermögen verwaltet werden. 

Mit rund drei Millionen Euro Fördermitteln fördert die Klosterkammer pro Jahr etwa 200 kirchliche, soziale und bildungsbezogene Projekte. In elf Klöstern und vier Stiften im Verwaltungsbereich der Klosterkammer, vor allem rund um Hannover und in der Lüneburger Heide, leben bis heute kleine Konvente evangelischer Frauen.

Anlässlich des 200. Jubiläums läuft im Landesmuseum Hannover derzeit bis zum 12. August die Ausstellung "Schatzhüterin" über Klosterschätze aus Niedersachsen und das Leben in den niedersächsischen Frauenklöstern. Am 25. August lädt die Klosterkammer die Öffentlichkeit zu einem Jubiläumsfest im Kloster Wöltingerode bei Goslar ein. Für den 1. Oktober ist ein "Tag der offenen Tür" in Hannover geplant.

epd