Startseite Archiv Tagesthema vom 23. Mai 2018

Zurück in die Zukunft

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In der Verdener St.-Nikolai-Gemeinde startet das Projekt Gemeinwesendiakonie nun in die Umsetzungsphase: Aus dem Gemeindehaus wird ein Begegnungszentrum

Seit den 1960er Jahren entstand zwischen der Verdener Kernstadt und dem damaligen Vorort Borstel ein neues Wohngebiet. Mittendrin wurde 1970 das Gemeindehaus von St. Nikolai errichtet.

In das neue Viertel am Plattenberg zogen damals zahlreiche junge Familien. Sie alle machten auch den Kirchenbau zu einem lebendigen Treffpunkt.

Heute sieht es etwas anders aus: Die Bewohner des Stadtteils sind zusammen alt geworden, viele Jüngere sind weggezogen. Die einst 3500 Köpfe zählende Gemeinde hat nur noch rund 1500 Mitglieder. Um 2015 wurde sogar diskutiert, das Gemeindehaus zugunsten eines kleineren Baus aufzugeben. „Das Gebäude stand auf der Kippe“, erinnert sich die langjährige Kirchenvorsteherin Jutta Adomeit.

Doch es kam anders. Die Gemeinde ließ das Haus sanieren und machte sich auf den Weg, es neben seiner gottesdienstlichen Funktion auch wieder zu einem allgemeinen Ort der Begegnung zu machen. Zeitlich und inhaltlich gut gepasst hat da der parallele Start des Projektes Gemeinwesendiakonie der hannoverschen Landeskirche. Seit 2016 hilft die Initiative Kirchengemeinden dabei, auf dem Dorf oder in einem Stadtteil sozial-diakonische Projekte zu entwickeln.

Zweck ist es, die Verbindung von Gemeinden zu den Menschen in der Nachbarschaft und zu anderen Einrichtungen vor Ort zu stärken. Kirche kann so zeigen, dass sie sich auch außerhalb ihres eigentlichen Wirkungskreises zum Wohle der Menschen einbringen kann. Es geht um Vernetzung, Stadtteilentwicklung und eine neue Kultur der Beteiligung. Dabei entstehen je nach lokalen Gegebenheiten völlig unterschiedlich Einzelprojekte – derzeit sind es 16 Projektgemeinden in der Landeskirche.

„Nicht für, sondern mit den Menschen vor Ort werden die Projekte entwickelt“, betont der Sozialpädagoge Peter Meißner, der im Haus kirchlicher Dienste (HkD) in Hannover für die Initiative verantwortlich ist. Kooperationspartner der Landeskirche sind dabei die Diakonie Niedersachsen und das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD. 

Die Verdener Projektmacher haben sich gut vorbereitet: Die Gruppe um Jutta Adomeit und Kirchenkreissozialarbeiterin Heike Walter, die das Bindeglied zur Diakonie ist, nahm an einem Workshop zu Gemeinwesendiakonie teil und besuchte auch vergleichbare Projekte in Hannover und Bremen. Es folgte eine genaue Analyse der Bevölkerungsstruktur im Stadtviertel sowie Umfragen unter Anwohnern und Schülern.

Mit dem Musikpädagogen Sven Kracke stellte die Gemeinde Ende 2017 zudem einen pädagogischen Leiter und Quartiersentwickler an. Kracke hat sein Büro im Gemeindehaus und soll die Entwicklung zum Begegnungszentrum begleiten. Er vernetzt das Haus mit vergleichbaren Einrichtungen in der Stadt und unterstützt die Entwicklung neuer Projekte.

Krackes Stelle finanziert die Stadt Verden. Sie hat großes Interesse an dem Projekt, denn auch sie profitiert von der Aufwertung des Viertels. Der modernisierte Bau ist das einzige barrierefreie Gebäude weit und breit. Zudem ist der Bürgermeister Lutz Brockmann (SPD) oft zu Gast. Er wohnt in dem Stadtteil und nahm mit rund 40 weiteren Interessierten auch an der Ideenwerkstatt im April teil.

Die Teilnehmer analysierten dabei drei Stadtkarten, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Viertels repräsentieren sollten. Auf der „Karte der Erinnerung“ etwa wurden frühere Treffpunkte wie Bäcker, Schlachter oder Tante-Emma-Laden eingezeichnet. Alles Orte, die es in dem 6000 Einwohner zählenden Viertel heute nicht mehr gibt. Umso deutlicher wird die Notwendigkeit des neuen Begegnungsortes.

Viele ältere Menschen im Stadtteil leben heute allein, sagt Jutta Adomeit. Frühere Generationen hätten nahe Verwandte in der Umgebung gehabt. Außerdem gab es viele alltägliche Treffpunkte wie Läden oder Sitzbänke. Heute könnten zahlreiche Ältere ihrer Einsamkeit fast nur noch im Wartezimmer beim Arzt entkommen. Eine Idee lautet deshalb, eine „Herzenssprechstunde“ im Gemeindehaus einzuführen. Ärzte könnten allein lebende Senioren auf dieses Angebot hinweisen.

Auch weitere Veranstaltungsideen, die nun Schritt für Schritt umgesetzt werden sollen, entwickelte die Ideenwerkstatt. So zum Beispiel einen offenen Café-Betrieb, ein mobiles Gärtnerprojekt („Fahrgarten“) oder einen Flohmarkt. Zudem bietet sich eine Zusammenarbeit mit der benachbarten Gemeinde-Kita an. Denn auch die Eltern wünschen sich einen Treffpunkt.

Welche der Einzelprojekte realisiert werden? Entscheidend ist immer der Bedarf, erklärt Quartiersentwickler Kracke. An den Wünschen der Menschen vorbei, soll hier nichts entwickelt werden.

Derzeit starten bereits Angebote, die vor der Ideenwerkstatt ausgearbeitet wurden: Ein internationaler Kochkurs hat gerade begonnen, genauso wie Nordic-Walking-Einheiten und Gitarrenunterricht. Der Musiker Maik Dudda lernte als Kind selbst das Gitarrespielen bei einem Kurs im Gemeindehaus. Quartiersentwickler Kracke, der ausgebildeter Schlagzeuglehrer ist, bietet Kurse mit afrikanischen Trommeln an. Und unter dem Titel „Schüler Fit“ wird es nach den Sommerferien eine Hausaufgabenbetreuung geben. Immerhin liegen nicht weniger als fünf Schulen in naher Umgebung.

Doch kommt das Projekt richtig ins Rollen, so könnte manch Gemeindemitglied fragen: „Wo bleibt denn hier noch Identität und Raum als religiöse Einrichtung? Pastor Holger Hermann versichert, dass die Identität als Kirche nicht gefährdet ist. Gottesdienste finden hier wie bislang alle zwei Wochen statt. „In der Kirche steht immer der Mensch mit seinen Wünschen, Sorgen und Nöten im Mittelpunkt“, so Hermann. Und eigentlich kennen ja auch die langjährigen Gemeindemitglieder das Haus schon als lebendigen Treffpunkt für alle. In früheren Jahren war das ja schon mal so.

Stefan Korinth

Gemeinwesendiakonie – was ist das?

Peter Meißner ist im Haus kirchlicher Dienste für das Projekt Gemeinwesendiakonie zuständig. Im Kurzinterview erklärt er, was Gemeinwesendiakonie eigentlich ist.

Worin unterscheidet sich Gemeinwesendiakonie von anderem diakonischen Handeln?

Peter Meißner: Gemeinwesendiakonie ist die strukturierte und gemeinsame Handlungsstrategie von Kirchengemeinde und Diakonie in der Wahrnehmung des Stadtteils oder Dorfes unter Einbeziehung der Menschen vor Ort. Sie orientiert sich hierbei an den Lebenslagen und Themen der Menschen. Für die Kirchengemeinden bedeutet dies, die konsequente Ausrichtung der Gemeinde als Teil des Gemeinwesens und an den Bedürfnissen der Menschen im Sozialraum. In der Kooperation zwischen Kirchengemeinde, Diakonie, Kommune und anderen Akteuren wird die gemeinsame Verantwortung für das Dorf, den Stadtteil ins Blickfeld jeglichen Handelns gestellt. Gemeinwesendiakonie ist zudem eine Arbeit an der Haltung, die die Mitwirkenden dazu anregt und befähigt, die Menschen zu befragen und aktiv mit einzubeziehen. Projekte und Vorhaben werden nicht für sondern mit den Menschen entwickelt.

Welchen Gemeinden empfehlen Sie, sich in der Gemeinwesendiakonie zu engagieren und warum?

Peter Meißner: Kirchengemeinden entwickeln ihr Selbstverständnis oftmals im kirchlichen Kontext. Sie sehen sich zwar im Stadtteil oder Dorf beheimatet und verortet, bringen sich aber in gesellschaftlichen Fragen und Themen nur bedingt ein. Kirchengemeinden, die sich gerade in der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren den gesellschaftlichen Herausforderungen des Stadtteils oder Dorfes stellen wollen, bekommen mit dem Arbeitsansatz der Gemeinwesendiakonie die Möglichkeit ihr Blickfeld und Handeln zu erweitern. Die Betrachtung des Wirkungs- sowie Umfelds der Kirchengemeinde ist ebenso Bestandteil wie die Kooperation zu innerkirchlichen und externen Partnern, wie die Einbeziehung von diakonischen Einrichtungen vor Ort.

Was hat das Gemeinwesen, die Kommune, von diesem Engagement einer Gemeinde? 

Peter Meißner: Mit dem Engagement im Gemeinwesen werden Kirchengemeinden, mehr als bisher ein zivilgesellschaftlicher Akteur. Sie entwickeln und gestalten mit ihrem Handeln die Themenfelder von Nachbarschaft und Teilhabe und bringen sich ein, wo das Gemeinwesen gut funktioniert, und auch dort,  wo es vor schwierigen Herausforderungen steht. Die Kirchengemeinde bringt sich in die gesellschaftlichen Themen ein und wirkt durch die Aushandlungsprozesse mit den Menschen vor Ort demokratiefördernd.

Inteview: Stefan Heinze