Startseite Archiv Tagesthema vom 16. Dezember 2016

Fluchterfahrungen aus erster Hand

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Neuankömmlinge erzählen vor Kamera von Krieg und Leid - Syrischer Regisseur dreht Dokumentarfilm "Newcomers" über Flüchtlinge

Er war erst wenige Monate in Deutschland, da gab Maan Mouslli (30) sein erstes, mühsam zusammengespartes Geld für eine Filmkamera aus. "160 Euro hat sie gekostet - nicht besonders gute Technik", erzählt der 30-Jährige. Aber für den syrischen Filmemacher und seinen Kollegen Anis Hamdoun war sie Gold wert. Mit ihr drehten die beiden in der neuen Heimat die ersten Kurzfilme: Info-Clips für Neuankömmlinge wie sie selbst - über Sprachlernangebote, Arztbesuche oder Secondhand-Kleidung.

Mittlerweile haben sich die beiden Bürgerkriegsflüchtlinge als Theater- und Film-Regisseure über Osnabrück hinaus einen Namen gemacht. Hamdouns Theaterstück "The Trip" gewann den ersten Preis des Online-Theaterportals "Nachtkritik.de". Es war in Osnabrück, Berlin und Frankfurt/Main auf der Bühne. Hamdoun lebt mittlerweile in Berlin. Mousllis Kurzfilm "Shakespeare in Zaatari" wurde bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes gezeigt und gewann einen ersten Preis beim Film Festival in Köln.

Derzeit arbeitet Mouslli an seinem ersten großen Projekt, einem Dokumentarfilm. Die Idee und erste Schritte hat er noch mit seinem Freund Hamdoun entwickelt. Jetzt setzt er es gemeinsam mit einem internationalen Team aus Dolmetschern, Assistenten sowie Theater- und Filmemachern um. "Es ist jetzt an der Zeit, einen richtig professionellen Film zu machen über Flucht und Flüchtlinge. Und wer wenn nicht ich sollte das tun?" Neuankömmlinge in ganz Deutschland werden für "Newcomers" vor der Kamera ihre Kriegs- und Fluchtgeschichten erzählen.

Etwa 200.000 Euro soll der Film kosten. Rund 80.000 Euro sind bereits über Spendenaufrufe mit Hilfe der Caritas Osnabrück und der Flüchtlingsorganisation Exil zusammengekommen, sagt Projektleiterin Sara Höweler. Die beiden Einrichtungen sind Projektträger. Höweler managt Verwaltung, Organisation und Spendenakquise. Im Januar 2017 wird das Team mit der Deutschlandreise und den ersten Interviews beginnen.

"Wir wollen damit auch der sich ausbreitenden rechten Stimmung etwas entgegensetzen", erklärt Mouslli. "Die Menschen hier sollen aus erster Hand erfahren, was die Flüchtlinge erlitten haben." Sie sollten spüren, dass es mit all den Erfahrungen von Flucht und Verfolgung nicht so einfach ist, sich in Deutschland zu integrieren, sagt der Familienvater und fügt mit scharfer Stimme hinzu: "Ich kann hier doch nicht unbeschwert Fußball spielen, wenn ich weiß, dass mein Cousin in Syrien gerade erschossen wurde." 

Der Film wird den Regisseur aber auch zu seinen eigenen schmerzlichen Erfahrungen zurückführen. "Ich habe selbst über Jahre Krieg und Verfolgung erlebt und denke jeden Tag an meine Freunde und Verwandten, die noch in Syrien sind", sagt Mouslli. "Ich glaube, es wird eine schwierige Zeit für mich",

Der kleine rundliche Mann mit der Glatze ist IT-Ingenieur von Beruf. An der Universität in Damaskus hat er einen Theaterclub gegründet, als Schauspieler und Filmemacher gearbeitet. Schon früh legte er sich mit dem Assad-Regime an. "Ich war im Gefängnis und wurde während einer Demonstration von Mitgliedern des Geheimdienstes angeschossen."

Über Ägypten kam er mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn vor zweieinhalb Jahren nach Deutschland. Für ihn sei es eine Art Verpflichtung, die Vergangenheit nicht ruhen zu lassen, meint Mouslli: "Alles andere wäre Verrat am Widerstand, den ich in Syrien geleistet habe."

Heute lebt Mouslli mit seiner Familie in Osnabrück. Bei der Caritas absolviert er gerade ein Praktikum im IT-Bereich. Nebenbei dreht er weiter seine Non-Profit-Filme und schneidet sie am heimischen Computer. Sein neuestes Werk "Love Boat" über ein Theaterprojekt mit syrischen Geflüchteten und Kriegsverletzten hatte gerade im Osnabrücker Kino Premiere.

Doch nach wie vor hat Mouslli jeden Tag Sehnsucht nach Syrien. "Ich bin im Kopf immer noch dort und nur mit dem Körper hier", sagt er. Dann schiebt er mit einem verträumten Lächeln hinterher: "Und ich vermisse die Sonne."

Martina Schwager (epd)

Kollektiv versagt

Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister beklagt angesichts der verzweifelten Lage der Menschen im syrischen Aleppo ein kollektives Versagen der Weltgemeinschaft. "In den Medien sehen wir fast apokalyptische Bilder einer beinahe vollständig zerstörten Stadt, durch deren kaputte Straßen Menschen irren, die versuchen, ihr Leben zu retten. Diese Bilder haben für mich einen endzeitlichen Charakter."

Vor diesem Hintergrund sei es eine besondere Herausforderung, in zehn Tagen an Heiligabend über die Weihnachtsgeschichte zu predigen, die mit dem Statthalter Quirinius in Syrien ihren Anfang nahm. Die Geschichte von der Geburt Jesu, die voller Verheißung, Zuversicht und Hoffnung sei, beginne genau in dem Land, das sich seit Jahren in einer katastrophalen Situation befinde. "Man traut sich kaum, das nebeneinanderzusetzen, weil der Kontrast so groß ist", betonte Meister.

"Wir können in unseren Weihnachtsgottesdiensten nicht allein die Botschaft bringen, dass Gott es schon irgendwann richten wird", unterstrich der Bischof. Vielmehr müssten Gottesdienstbesuchern Möglichkeiten zur Hilfe aufgezeigt werden. "Das kann ein so kleiner Schritt sein, dass er vielleicht nur aus der Kollekte für die Diakonie Katastrophenhilfe besteht."

Auch wenn die Situation schrecklich und hoffnungslos erscheine, müssten die Kirchen daran mitwirken, dass es in Aleppo und ganz Syrien wieder Leben und eine Infrastruktur gebe, unterstrich der Theologe. Die hannoversche Landeskirche unternehme seit einiger Zeit gemeinsam mit der Evangelisch-reformierten Kirche "einen verzweifelten Versuch, durch Partnerschaften zu helfen". In Syrien unterstützten die Kirchen vier Schulen, eine davon sei in Aleppo. Den letzten Kontakt habe es vor drei Wochen gegeben.

Im neuen Jahr sei geplant, angehende evangelische Religionspädagogen der hannoverschen Landeskirche zu Schulpraktika in die großen Flüchtlingscamps in den Libanon zu schicken. Von den dort rund 400.000 lebenden Kindern könne zurzeit höchstens die Hälfte am Schulunterricht teilnehmen, weil es an Lehrern fehle.

"Wir brauchen jetzt das geballte Hoffnungsbündel, das in der Botschaft von der Geburt Jesus Christus steckt", sagte Meister: "Wenn wir unsere Hoffnung aufgeben, können wir auch gleich den Terroristen und den Folterknechten unsere Welt überlassen."

epd