Startseite Archiv Tagesthema vom 31. Oktober 2016

Blinde Verehrung Luthers wäre fahrlässig

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epd-Gespräch mit Landesbischof Meister zum Reformationstag

Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister wünscht sich für das Jahr des 500. Reformationsjubiläums, das mit dem Reformationstag an diesem Montag beginnt, eine sachliche Auseinandersetzung mit Martin Luther. "Das Jubiläum ist kein Anlass, um ihn blind zu verehren. Das wäre im Gegenteil fahrlässig", sagte der evangelische Theologe im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Es gehe darum, Luther und seine Zeit historisch fundiert zu betrachten. "Dabei ist eine kritische Distanz und Beurteilung bestimmter Haltungen unverzichtbar", sagte Meister. Als Beispiele nannte er Luthers (1483-1546) scharfe Angriffe auf die Bauernkriege, seine ausgeprägte Skepsis gegenüber dem Islam und vor allem seinen Judenhass.

Luthers Antisemitismus sei unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Juden seine Erwartungen, Christen zu werden, nicht erfüllt hätten, erläuterte der Theologe. Luther habe einen neuen Deutungsrahmen geschaffen, in dem Christus die Autorität ist, die als alleiniger Maßstab die Auslegung der Bibel bestimmt. Diese Position habe die Autorität des Papstes und die Macht der Kirche geschwächt. "Das gab ihm die Freiheit, diejenigen massiv, polemisch und grob zu kritisieren, die dieser Neuausrichtung nicht folgten." Daraus habe auch sein "wüster Antijudaismus" resultiert, der nicht zu entschuldigen sei.

Auf der anderen Seite habe er den Menschen mit seiner Überzeugung, dass die Grundlage des Glaubens in Christus selbst und nicht in der Vermittlung durch kirchliche Amtsträger und Traditionen liege, völlig neue Perspektiven eröffnet. "Der Ritter und der Handwerker, der Bauer und die Hausfrau erfuhren, dass sie nicht in einer abgewerteten Kategorie lebten, die sie - bildlich gesprochen - im Gegenüber zu den Klerikern in die zweite, dritte oder fünfte Reihe verbannte, sondern dass sie in der ersten Reihe neben ihnen sitzen durften."

Genau dies habe den Protestantismus aber auch von Anfang an zu einer anstrengenden Konfession gemacht. "Man muss sich nicht nur darum bemühen, selbst zu verstehen, was in der Bibel steht, sondern daraus dann auch noch einen eigenen Lebensentwurf konstruieren", sagte Meister und betonte: "Das verlangt sicherlich mehr, als den 'Like- oder Dislike-Button' bei Facebook anzuklicken." Die Menschen sollten nach Luthers Absicht nicht in der Angst vor Institutionen leben, die ihnen ein Richtig oder Falsch vorschrieben.

Das sei erschreckend aktuell, sagte Meister: "Wer bestimmt im Zeitalter des Wirtschaftsliberalismus und der sozialen Netzwerke eigentlich, was wir denken und was wir entscheiden sollen? Stecken wir nicht in einer Zwangsjacke, auch von großen Wirtschaftsunternehmen, die aus ökonomischer Sicht diese Rolle übernommen haben?"

Luthers Verständnis von Freiheit habe sich fundamental vom heutigen Freiheitsbegriff unterschieden, erläuterte der Bischof. "Uns geht es oft um Freiheit der Daten, der Geschwindigkeit oder des Konsums. Wir wollen möglichst alles zu jedem Zeitpunkt grenzenlos zur Verfügung haben - wofür eigentlich und warum?" Der Reformator habe sein Gewissen dagegen an Gott gebunden und seine Freiheit eben nicht zur "selbstverherrlichenden Verwirklichung der eigenen Wünsche" eingesetzt: "Luthers Überzeugung war: Wie wir unsere Freiheit nutzen, muss für das Leben der Menschen einen guten Ertrag haben und der Ehre Gottes dienen", sagte Meister.

Für den Bischof der größten evangelischen Landeskirche in Deutschland wäre es lohnend, während des Reformationsjubiläums gerade auch Luthers Freiheitsbegriff zu thematisieren: "Haben wir nicht eine große Desorientierung in unserer Gesellschaft, weil wir an zu vielen Stellen übergroße Freiheiten haben, die wir nicht mehr auf ihre Bindungen prüfen? Es geht darum, die geschenkte Freiheit zu bewahren und sie an den Freiheiten der anderen zu bewähren."

epd

10. November 1483: Martin Luther wird in Eisleben geboren.

1501 bis 1505: Mit 17 beginnt er das Studium der "artes liberales" in Erfurt, im Mai 1505 Jura.

1505: Voller Angst vor einem Gewitter gelobt der junge Mann, ins Kloster zu gehen. Am 17. Juli tritt er ins Erfurter Kloster der Augustinereremiten ein, später beginnt das Theologiestudium.

1511 bis 1517: Versetzung als Professor nach Wittenberg, wo er rund 35 Jahre leben wird. Seine Erkenntnis "sola fide, sola gratia, sola scriptura" reift: Der Mensch wird nicht durch Werke, sondern allein aus Glauben gerechtfertigt.

1517: Am 31. Oktober veröffentlicht er in Wittenberg 95 Thesen gegen den Ablasshandel und Missstände in der Kirche.

1518: Der Papst eröffnet den kanonischen Prozess gegen ihn.

1520: Luther verbrennt die Bann-Bulle von Leo X., Schriften wie "Von der Freiheit eines Christenmenschen" entstehen.

1521: Beim Reichstag zu Worms hält Luther vor dem Kaiser an seiner Erkenntnis fest. Er flieht auf die Wartburg, wo er in wenigen Wochen das Neue Testament ins Deutsche übersetzt. Das Wormser Edikt bringt die Reichsacht über ihn.

1522 bis 1524: Luther kehrt wegen Unruhen nach Wittenberg zurück. Erste Konflikte mit dem Reformator und Bauernführer Thomas Müntzer.

1525: Luther verdammt die Aufstände der Bauern. Im Juni heiratet er die entflohene Nonne Katharina von Bora.

1529: In Marburg streitet er mit dem Züricher Reformator Huldrych Zwingli über das Abendmahl.

1530: Das "Augsburger Bekenntnis", eine erste Zusammenfassung des evangelischen Glaubens, wird vorgestellt.

18. Februar 1546: Luther stirbt, geplagt von vielen Krankheiten, auf der Durchreise in Eisleben.

Kirchenspaltung war vermeidbar

Die Kirchenspaltung in der Reformationszeit vor 500 Jahren hätte aus Sicht des Göttinger Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann unter bestimmten Umständen vermieden werden können. "Wäre es gelungen, Luther innerhalb der römischen Kirche zu halten, dann hätte sich die Geschichte des Christentums seit dem 16. Jahrhundert völlig anders entwickelt", sagte Kaufmann im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Stattdessen habe der Papst den kritischen Mönch und Professor Martin Luther (1483-1546) zum Ketzer erklärt und exkommuniziert.

Im Streit um Luther hatte sich die abendländische Kirche in einen evangelischen und einen römisch-katholischen Zweig gespalten. Der evangelische Theologie-Professor Kaufmann fasst die umwälzenden Ereignisse in seinem neuen Buch "Erlöste und Verdammte" zum 500-jährigen Reformationsjubiläum 2017 auf dem jüngsten Stand der Forschung zusammen. Er ordnet das Geschehen in die europäische Geschichte der frühen Neuzeit ein und wirft einen Blick auf die Wirkung jener Epoche bis heute. Kaufmann gilt als einer der führenden Reformationshistoriker in Deutschland. Sein Werk wird vom 19. bis 23. Oktober bei der Frankfurter Buchmesse vorgestellt.

Nach der Logik des frühen 16. Jahrhunderts habe sich der Papst in Rom mit dem Bann gegen Luther eines Kritikers entledigen wollen, sagte Kaufmann: "Der Mann hat gestört." Durch seine Ernsthaftigkeit habe Luther "bestimmte Erscheinungen des zutiefst dekadenten römisch-katholischen Kirchenwesens der Zeit" infrage gestellt. Luther verdanke sein Überleben vor allem der Tatsache, dass der sächsische Kurfürst ihn geschützt habe: "Ansonsten wäre er den Weg aller Ketzer gegangen, und das heißt: die Exekution durch das Feuer."

Luther hatte Ende Oktober 1517 mit seinen berühmten 95 Thesen zum Ablasswesen eine Ereigniskette ausgelöst, die am Ende zur Gründung der evangelischen Kirche führte. Mit "Ablassbriefen" versprach die Kirche damals den Menschen gegen Geldzahlung einen Nachlass bei den Sündenstrafen im Jenseits. Laut Kaufmann gab es anfangs hochrangige Kirchenführer, die Luthers Ablasskritik für zutiefst berechtigt hielten. Eine verbindliche Kirchenlehre vom Ablass habe es zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben. "Es war zunächst eine offene Situation."

Am Ende habe sich eine bestimmte papstzentrierte Lesart der Ablasslehre durchgesetzt und das weitere Vorgehen Roms bestimmt. Die Rechtsgrundlage, um Luther zum Ketzer zu erklären, sei sogar erst nachträglich formuliert worden - im November 1518. "Die Kirche erkennt, dass ihre disziplinarischen Möglichkeiten im Hinblick auf diesen verworfenen Ketzer nicht mehr funktionieren und gibt ihn der Verdammnis preis", sagte Kaufmann. Luther habe dieses "Nein der Papstkirche" dann seinerseits bejaht und die Papstkirche verworfen.

epd

Luther-Eiche im Ministeriumsgarten