Startseite Archiv Tagesthema vom 10. August 2016

Medien spielen eine Schlüsselrolle

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Ralf Meister ruft nach Anschlägen zu Nüchternheit und Besonnenheit auf

Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister hat die Medien nach den Anschlägen in Bayern dazu aufgerufen, künftig weder Namen noch Familienhintergründe von Attentätern zu nennen. Sie sollten keine öffentliche Bühne bekommen, sagte der evangelische Theologe im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Meister, der auch Ratsvorsitzender der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen ist, rief zu Nüchternheit und Besonnenheit auf. Zurzeit durchfluten Stellungnahmen von sogenannten Experten das Land und tragen zu einer weiteren Verunsicherung der Menschen bei.

epd: Herr Landesbischof, wie erleben Sie nach den Anschlägen von Würzburg, Ansbach und München die Situation in Deutschland?

Ralf Meister: Wir haben zurzeit in den Medien eine permanente Lagebeschreibung von Therapeuten, von Soziologen bis zu den zahlreichen Theoretikern für Terrorismus und Amokläufe . Bei dieser geballten Macht der Deutung bekommt man schon eine Gänsehaut und kann sich der großen Verunsicherung kaum entziehen. Unwillkürlich denkt doch jeder: Wenn es wirklich so schlimm ist, dann wird jetzt bald auch in meinem Leben irgendetwas passieren.

epd: Welche Rolle spielen die Medien dabei?

Meister: Sie spielen eine Schlüsselrolle. Auch ich habe während meines Urlaubs bei dem Putsch in der Türkei und dem Amoklauf von München alle paar Minuten  auf mein Smartphone geschaut. Das ist nun mal die soziale Wirklichkeit. Diese fortdauernde Informationsflut und unser Umgang damit verursachen auch einen Teil der Hysterisierung in unserem Land.

Wir bewegen uns in einer Aufgeregtheitsblase, statt besonnen, klar und nüchtern zu überlegen, was jetzt notwendigerweise getan werden müsste. Die kostbarste Ressource unserer Zeit ist die Aufmerksamkeit. Das wissen die Terroristen genauso wie die Amokläufer. Sie holen sich unter den menschenunwürdigsten und brutalsten Bedingungen die von ihnen gewünschte Beachtung. Ausgelöst durch die Anschläge in den vergangenen Wochen bekommen sie die Aufmerksamkeit, die sie wollen.

epd: Was lässt sich dieser Hysterie entgegensetzen?

Meister: In der Öffentlichkeit hören wir ja nichts von den vielen Menschen, die durch gute psychotherapeutische und geistliche Begleitung oder auch durch persönliche, menschliche Nähe und Liebe von möglichen Gewaltakten abgehalten werden. Stattdessen fokussiert sich alles auf die wenigen, die ihr Leben als Tötungsinstrument verheerend einsetzen.

Im Moment erleben wir dieses in einer besonderen Dramatik und oftmals leider in einem Bezug auf islamistische Begründungen. Aus der Suizidforschung kennen wir den Nachahmungseffekt, wenn Namen und nähere Umstände in den Medien detailliert geschildert werden. Es scheint, als wenn eine aufgeregte Berichterstattung über Terroranschläge eine ähnliche Wirkung haben könnte. Ich fände es daher absolut sinnvoll, in den Medien weder Namen noch Bilder noch Familienhintergründe von Attentätern zu nennen. Wir schenken ihnen nicht einmal die Ehre unserer Verachtung.

epd: Was erhoffen Sie sich davon?

Meister: Die Attentäter wollen Vernichtung und Gewalt und vor allem Aufmerksamkeit für sich und für ihr religiöses, soziales oder kriminelles Netzwerk. Wir müssen deutlich sagen: Diese Bühne geben wir euch nicht. Wie Bundespräsident Joachim Gauck bei der Trauerfeier in München betonte, werden wir weder ihrem Hass folgen noch unsere Solidarität aufgeben. Wir werden unser Mitgefühl nicht infrage stellen und Attentätern auch keine Plattform schaffen für ihr Tun.

Besonders die sozialen Medien entwickeln sich zusehends zu einem immer schneller schlagenden Metronom der Aufmerksamkeitsprovokation. Dieses Bedürfnis, immer, überall und sofort dabei sein zu wollen, hat eine Schattenseite für unsere Psyche und die gesellschaftliche Stimmung. Diese permanente Hochaufmerksamkeit kann einerseits zu einer permanenten inneren Aufgeregtheit führen, weil der nächste Terroranschlag ja vor meiner Haustür sein könnte oder andererseits auch zu einer generellen Ignoranz und Gleichgültigkeit gegenüber unseren Mitmenschen.

„Jeder hat seinen Auftrag“

epd: Können die Kirchen zu einer Deeskalation dieser Aufgeregtheitsspirale beitragen?

Meister: Die Aufgabe der Kirchen in dieser Situation ist, das zu tun, was sie am besten können: Trost zu schenken und gelassen zu bleiben. Auch wenn die Lage ja die gleiche bleibt, im Trost wird unser Leben ein anderes. Dafür  haben die Kirchen eine Fülle von Ritualen und Formen und vor allem Trost spendende Menschen und große Erzählungen. Und Gelassenheit hatte ursprünglich auch einen religiösen Hintergrund: Sie bezog sich auf das Verhältnis des Menschen zu Gott. Auch - und vielleicht sogar besonders - in unsicheren Zeiten leben wir im Angesicht Gottes, der unsere Tränen sieht und unsere Klage hört.

Und dann finde ich wichtig: Statt die ganze Welt retten zu wollen, muss sich jeder selbst fragen, was sein eigener Auftrag ist, um das Leben für alle ein klein wenig besser zu machen. Vor einem Jahr sind viele Menschen in der Flüchtlingshilfe aktiv geworden. Viele sind dabei geblieben und leisten Großartiges.

Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die in der Kirche aktiv sind, sich auch häufiger sozial engagieren. Der große Schatz der Kirche ist, dass sie Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus miteinander verbindet. Sie gibt der Vielfalt einer Gesellschaft  Raum und bringt die Menschen miteinander in eine Kommunikation, die nicht durch oben und unten, Nation oder Herkunft getrennt ist. Die Demokratie braucht vermittelnde Institutionen, die diese Vielfalt absichern. Davon ist die Kirche in meinen Augen die stärkste Einrichtung.

epd: Diese gesellschaftliche Vielfalt ist nicht von allen gewünscht - das zeigt sich sowohl in der Einschätzung der Flüchtlingssituation durch einzelne Bundes- und Landespolitiker als auch bei der Kontroverse um die Islamverträge in Niedersachsen. Was ist also zu tun?

Meister: Die Politik macht sich in einer aufgeregten gesellschaftlichen Lage dadurch glaubwürdig, dass sie verlässlich agiert. Das bedeutet vor allem, sie muss in wichtigen Fragen - auch parteiübergreifend - Kompromisse bundes- wie landespolitisch suchen und muss sie verlässlich umsetzen. Das garantiert die Glaubwürdigkeit. Wenn wir dagegen fortwährend entweder schon erzielte oder noch ausstehende Kompromisse zu politischen Spielbällen machen, wird das Vertrauen in unsere politische Kultur weiter Schaden nehmen.