Startseite Archiv Tagesthema vom 28. März 2016

„Sie tut uns einfach gut“

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Christina Ernst klappt ihren Blindenstock auf ein gut verstaubares Maß zusammen und platziert ihn unter ihrem Stuhl. Mit einem fröhlichen „Hallo!“ begrüßt die 32-Jährige drei ihrer Konfirmanden. „Wo sitzt ihr denn?“ fragt sie. Auf ihrem Gesicht spielt ein offenes Lachen. Sie trägt Jeans und schwarze Stiefel. Ein zartblauer dünner Baumwollschal unterstreicht das Blau ihrer Augen. Nicole, Larissa und Sophia, alle 13 Jahre alt, melden sich mit ihren Namen von links und rechts des Tisches.

Christina Ernst ist seit sechs Wochen ihre neue Pastorin in der evangelischen Kirchengemeinde Twistringen, einer niedersächsischen Kleinstadt zwischen Diepholz und Bremen. Sie ist eine von sehr wenigen blinden Gemeindepastoren in ganz Deutschland. Twistringen ist ihre erste Stelle - zur Probe und zunächst befristet auf drei Jahre, wie es in dem Beruf üblich ist.

Doch von Unsicherheit oder Nervosität ist bei ihr keine Spur: „Ich kann mich schon durchsetzen. Sonst wäre ich gar nicht so weit gekommen“, sagt sie lachend. Christina Ernst ist seit ihrem vierten Lebensjahr blind. Mit ihrem langen Stock ertastet sie Stufen, Bordsteinkanten, Wände, Unebenheiten. „Von Straßen, Wegen, dem Kirchenraum, meiner neuen Wohnung habe ich ganz schnell Pläne im Kopf.“

Von ihrem Vater hat sie gelernt, nicht aufzugeben. „Er hat sich immer wieder von neuem dafür eingesetzt, dass ich Regelschulen besuchen durfte.“ Sie selbst hat nach dem Theologiestudium und der Promotion dafür gekämpft, Gemeindepastorin zu werden. „Das war kein Selbstläufer. Es gab schon Bedenken, ob ich alleine eine Gemeinde würde leiten können“, sagt sie.

Dann gleiten ihre Finger über die Seiten eines Ringbuches und ertasten routiniert die erhabenen Punkte der Braille-Schrift. Die Pastorin liest ihren Konfirmanden einen kurzen Ausschnitt aus dem Matthäusevangelium vor. Sie sprechen darüber, was die Aussage für ihr Leben bedeuten könnte. „Frau Ernst ist cool!“, sagt Sophia. „Mit ihr kann man auch mal über persönliche Dinge sprechen.“ Dann fügt sie eher beiläufig hinzu: „Dass sie blind ist, merkt man meistens gar nicht.“

Ihr Handicap ist auch für die meisten Erwachsenen in der Martin-Luther-Gemeinde längst kein Thema mehr. Obwohl zu Anfang Skepsis vorherrschte. „Ich war, wie der gesamte Kirchenvorstand, etwas verunsichert, als ich gefragt wurde, ob ich mir eine blinde Pastorin vorstellen könnte“, räumt die Vorsitzende Petra Thiemann ein.

Pastorin Ernst habe mit ihrer Fröhlichkeit und Tatkraft auch in Twistringen eine richtige Aufbruchstimung ausgelöst, sagt die Vorsitzende: „Von allen Seiten wurden plötzlich Pläne an uns herangetragen. Das ging sogar bis zur Umgestaltung des Kirchenraums.“ Einstweilen hat die Pastorin erst einmal den dringendsten Wunsch erfüllt und einen Bibelkreis gegründet. „Sie hat ganz viel Energien freigesetzt und tut unserer Gemeinde einfach gut.“

Außerdem erledigt Christina Ernst natürlich den Pastoren-Alltag: Gottesdienste, Beerdigungen, Hausbesuche, Elternabende, Notfallseelsorge, Baumanagement, Konfirmandenunterricht, Ökumene. Einen städtischen Empfang hat sie genutzt, um auf ein Manko in der Stadt aufmerksam zu machen: Die Verkehrsampeln haben bislang kein akustisches Signal. „Ich war gleich mittendrin und von Anfang an voll in Aktion“, sagt sie selbst.

Ihr Handicap hat sie dabei weniger behindert, als viele anfangs glaubten. Wenn sie Hilfe braucht, fragt sie einfach. Hilfe, die ihr zusteht, erstreitet sie sich notfalls. So hat sie ihren Anwalt eingeschaltet, weil ihr bislang die Unterstützung durch eine persönliche Assistentin noch nicht bezahlt wird.

Und die junge Pastorin ist stets offen für Neues: Anfang Juni fährt sie mit Jugendlichen aus ihrer Gemeinde in ein großes Jugendzeltlager nach Verden. Rund 2.000 Menschen werden dort für einige Tage beisammen sein, erzählt sie voller Vorfreude: „Ich bin total gespannt, wie das wird.“

Martina Schwager (epd)

Ein Video, das bewegt

Ein Drei-Minuten-Video des Evangelischen Kirchenfunks Niedersachsen (ekn) über Christina Ernsts Zeit als Vikarin in Celle brachte die Wende. Der Film zeigt, mit welcher Selbstverständlichkeit die junge Frau trotz ihres Handicaps alle Aufgaben meistert, wie sie auf Menschen zugeht und sie begeistert: „Ich habe sofort alle angerufen und gesagt: Die muss hierher“, erinnert sich Thiemann.

Wenn sich Vikarin Dr. Christina Ernst auf einen Gottesdienst vorbereitet, liegen nicht nur Talar und Bibel bereit - sondern auch ihr Blindenstock. Die blinde Theologin will ihren Traum wahr machen und Pastorin werden.

Zwei Jahre lang war die junge Theologin Vikarin in der Celler Stadtkirche.

(Ein Videobericht vom Evangelischen Kirchenfunk Niedersachsen ekn)

Traumziel Pastorin

Beitrag „Blind Date – Eine Theologin auf dem Weg ins Pfarramt“. Produziert vom Evangelischen Kirchenfunk Niedersachsen (ekn), Januar 2012.

Ein ermutigendes Beispiel

Mich beeindruckt die blinde Vikarin Dr. Christina Ernst immer wieder. Wie sie ihren Weg in der Gemeinde findet und dabei von so vielen Menschen Unterstützung erfährt. So kommt es zu einer gelebten Gemeinschaft zwischen der Gemeinde und ihrer Vikarin. Mit ihrer selbstbewussten Art bringt sie die Menschen ins Gespräch und öffnet für eine neue Perspektive.

Auf den ersten Blick ungewöhnlich, dass eine Vikarin, die in der Gemeinde in ihrer Funktion viele Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen begleiten soll, diese Aufgaben und Herausforderungen mit ihrer Beeinträchtigung ansehnlich bewältigt. Doch genau darin kann ich eine Stärke erkennen. Denn sie geht unabhängig vom ersten, optischen Eindruck vorurteilsfrei auf alle Menschen gleichermaßen zu. Dabei wirkt sie in ihrer authentischen Art imponierend...