Startseite Archiv Tagesthema vom 21. August 2015

Wer nicht hören will, muss fühlen

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Wilhelm Willms wunderte sich in seinem berühmten Gedicht aus den 1970ern:

So viel gesehen haben wir nie wie heute /
so blind aber waren wir nie wie heute /
so viel licht hatten wir nie wie heute /
so dunkel aber war es nie wie heute

Heute, über 40 Jahre später, würde er angesichts von ständigem Telefonieren, SMSen und Chatten bestimmt hinzufügen:

Soviel gehört haben wir nie wie heute /
so taub aber waren wir nie wie heute /
so viele worte umschwirrten uns noch nie wie heute /
so stumm aber waren wir noch nie wie heute

Die Erzählung von der Heilung eines Taubstummen ist nicht 40, sondern 2000 Jahre alt. Grund genug, zu fragen: Wie würde Jesus heute heilen? Ich denke: Weder mit Spucke noch mit Handauflegung. Sondern so, dass er uns herausholt aus unserm „Nicht-mehr-hören-können“ und „Lieber den Mund halten“; denn das produziert Taubheit und Sprachlosigkeit. Bei Kindern kann man das gut beobachten: Weil sie in unglaublich kurzer Zeit unglaublich viel lernen müssen, durchlaufen sie verschiedene Phasen extremer Empfindsamkeit. In diesen Phasen schalten sie einfach ab, wenn es ihnen zu viel wird. Eltern und Erzieher reden dann vom „Trotzalter“ oder von „typisch Pubertät“.

Wir sind keine Kinder mehr. Wir brauchen erwachsene Formen, uns gegen ein Zuviel an leerem Geschwätz und tötender Geräuschkulisse zu wehren. Dazu kann uns Jesus und sein Evangelium helfen. Was er sagt, ist nie geschwätzig – probieren Sie's aus! Und was die Evangelien von ihm erzählen, ist beunruhigend wortkarg – und lässt gerade so aufhorchen. Man muss sich allerdings die Mühe machen, genau hinzuhören. Vielleicht steckt er auch uns den Zeigefinger ins Ohr, um uns zu zeigen, was sich zu hören lohnt. „Er legt den Finger in die Wunde“, sagt einer richtig. Oder er legt uns ein paar Tropfen Speichel von seiner Zunge auf unsere Zunge, damit wir anfangen, seine Worte nachzubuchstabieren.

„Das Wunder ist eine Frage des Trainings“, zitiert Susanne Breit-Keßler einmal den Schriftsteller Carl Einstein und fährt fort: „Gott hat Übung darin, das zeigen individuelle Lebensgeschichten. Wir dagegen könnten solches Mental- und Kardioprogramm ganz gut gebrauchen.“

Wir könnten zum Beispiel – mit Herz und Verstand – sorgfältiger überlegen, wann wir was sagen. Ist es für den andern gut, das jetzt zu hören, oder will ich es nur loswerden und benutze ihn als Mülleimer? Und umgekehrt: Will ich wirklich zuhören und verstehen bei dem, was ich mir „reinziehe“, oder nur Stille vermeiden, weil sie mir Angst macht? Das ist in der Tat ein „Programm“, es erledigt es sich nicht im Handumdrehen. Spontanheilungen sind so selten wie Spontanbekehrungen. Üblicherweise brauchen beide Zeit und Arbeit. Und immer wieder Gespräche mit Gott, in denen wir unser Hören und unser Sprechen trainieren.

Inzwischen sind allerdings sogar die „Kämmerlein“, in denen wir das nach Jesu Rat tun sollten, verwanzt. Auch in religiösen Räumen sind wir nicht mehr unter uns, weil sie angefüllt sind mit Worthülsen. Wir müssen wirklich in allen Bereichen trainieren: zu sagen, was lohnt, und zu hören, was weiter hilft. Beim Zeitung- wie beim Bibellesen, beim Beten wie beim Liebesgeflüster.

Für Jesus war nichts so bezeichnend wie die Aufmerksamkeit, mit der er gelebt hat, seine grenzenlose Offenheit für die Menschen. „Hefata“ sagt er zu dem Taubstummen, „öffne dich!“ Das macht nur Sinn bei einem, der noch zumachen kann. Der filtern kann, was er hört und was er sagt.

Klaus von Mering

Der Text

Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war. Und er nahm ihn aus der Menge bei-seite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!

Aus Markus 7,31-37

Der Autor

Klaus von Mehring war Inselpastor auf Langeoog und lebt jetzt in Oldenburg.