Startseite Archiv Tagesthema vom 09. August 2015

„Aufklärung, Aufklärung und nochmals...“

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Seit seiner Eröffnung am 8. August vor zehn Jahren hat sich das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven mit Ausstellungen, Kongressen und Vorträgen in die bundesdeutsche Debatte um das Thema Migration eingeschaltet. Aktuell komme es in der Diskussion um die wachsende Zahl von Flüchtlingen auf sachliche Informationen an, mahnte Direktorin Simone Eick (43) im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

epd: Frau Eick, ihr Haus ist im August 2005 als Auswanderermuseum gestartet und wendet sich mit einem Erweiterungsbau seit 2012 auch der Einwanderung nach Deutschland zu. Wie hängen die beiden Themen zusammen?

Simone Eick: Es sind zwei Seiten einer Medaille. In den vergangenen 200 Jahren sind etwa zwölf Millionen Deutsche ausgewandert. In dieser Zeit war Deutschland aber auch schon immer ein Einwanderungsland. Deshalb lag es nahe, die Themen zu verknüpfen. Dann begann in Deutschland ungefähr 2007 die Integrationsdebatte, die uns darin bestärkt hat, beide Aspekte näher zu beleuchten. Es ging unter anderem um Kopftücher, um Beschneidung und um Thilo Sarrazins kleingeistiges Buch "Deutschland schafft sich ab", das schon im Titel ein Weltuntergangsszenario entwirft, das mit Fakten gar nicht zu belegen ist, aber Überfremdungsängste schürt.

epd: Was stellen Sie dem entgegen?

Simone Eick: Aufklärung, Aufklärung und nochmals Aufklärung - darin sehen wir unsere wichtigste Aufgabe. Es ist doch immer einfach, gesellschaftliche Probleme auf Einwanderer zu projizieren. Um dem zu begegnen, erzählen wir in unserem Haus mit seinen jährlich durchschnittlich 200.000 Besuchern andere Geschichten, um zu erklären, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Und es geht uns darum, Statistiken transparent zu machen. Denn oft sind es Zahlen, die den Menschen Angst machen.

epd: Zum Beispiel?

Simone Eick: Zum Beispiel die Zahl der Flüchtlinge, die Deutschland anerkennt und dauerhaft aufnimmt. Wir haben viele Besucher bei uns gefragt, wie groß ihrer Meinung nach diese Zahl im vergangenen Jahr gewesen ist. Was meinen Sie, ist dabei herausgekommen?

epd: Es ging sicher um große Zahlen...

Simone Eick: Ja, in der Art. Die Antworten zeigen jedenfalls, dass die veröffentlichten Statistiken verwirrend sind und zu Fehleinschätzungen führen. Nur zwei bis drei Prozent von 500 Befragten wussten, dass es etwa 42.500 Flüchtlinge waren, die dauerhaft aufgenommen wurden. Über zehn Prozent meinten, es seien über eine Million. Und die anderen haben sich irgendwo dazwischen bewegt.

epd: Statistiken sind nun mal sehr abstrakt. Wie wollen Sie aufklären, damit mehr hängenbleibt und das Verständnis steigt?

Simone Eick: Als außerschulischer Lernort, der von vielen Klassen besucht wird, fangen wir schon bei Kindern und Jugendlichen an. Wir inszenieren Geschichte, indem Besucher bei uns beispielsweise in die Identität eines Auswanderers schlüpfen und erleben, was er damals erlebt hat. Migration hat viel mit Hoffnungen, Mut und Ängsten zu tun. Und Emotionen können sie nicht in eine Vitrine packen und ausstellen, die können sie nur auslösen.

Wir stellen jedenfalls fest, dass die Besucher durchschnittlich zwei bis drei Stunden durch unsere Ausstellungen gehen. Es gibt Untersuchungen, nach denen Museumsbesucher schon nach 25 Minuten müde werden und nach weiteren 20 Minuten auch gehen, wenn sie sich einfach Ausstellungsstücke in Vitrinen anschauen. Das Abstrakte, der kühle Kopf ist hier deshalb manchmal gar nicht so gefragt. Die Historiker bei uns im Haus müssen beides sein: analytisch und empathisch.

epd: Was haben Sie sich für die Zukunft vorgenommen?

Simone Eick: Wir haben die umfangreichste Sammlung zum Thema Migration, nicht nur in Deutschland. Diese Sammlung verdient es wirklich, noch besser erforscht zu werden. Dazu gehört es, dass wir sie digitalisieren und online stellen, damit auch Menschen etwas davon haben, die nicht nach Bremerhaven kommen. Außerdem könnte unsere Bibliothek digitalisiert werden. Und auch in der Museumspädagogik haben wir Ansätze, die wir unbedingt weiter vorantreiben möchten, beispielsweise mit interaktiven Lernstationen, die wir zusammen mit dem Grassimuseum Leipzig entwickeln.

epd: Wie wünschen Sie sich den gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Migration?

Simone Eick: Wir müssen unbedingt die Debatten rund um Flucht und Migration weiterführen, offen und ohne etwas wegzulassen. Auch wenn das anstrengend ist. Das muss möglichst sachlich geschehen. Dabei ist mir die Sprache wichtig, weil sie den Umgang mit dem Thema prägt. Wir analysieren gerade für eine Sonderausstellung ab Oktober zum Verhältnis der Deutschen zu Fremden die deutschen Medien der 1970er Jahre. Da entstehen Gewaltbilder im Kopf. Da wurde ständig von Invasion, von Lawine, von Überrollen, von Türkenscharen gesprochen. Das sind alles sehr militärische, sehr martialische Begriffe. Die Sprache muss sich ändern, auch im Miteinander, und zwar ohne dass Ängste ausgeblendet werden. Es kommt doch immer darauf an, wie ich Ängste äußere. Jedenfalls hat sich der Umgang mit dem Thema bereits positiv verändert. Wir hier im Deutschen Auswandererhaus wollen dazu beitragen, dass das auch weiter passiert.

epd-Gespräch: Dieter Sell
„Es ist doch immer einfach, gesellschaftliche Probleme auf Einwanderer zu projizieren. Um dem zu begegnen, erzählen wir in unserem Haus mit seinen jährlich durchschnittlich 200.000 Besuchern andere Geschichten, um zu erklären, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Und es geht uns darum, Statistiken transparent zu machen. Denn oft sind es Zahlen, die den Menschen Angst machen.“
Simone Eick, Direktorin des Deutschen Auswandererhauses

Deutsches Auswandererhaus

Das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven wurde vor zehn Jahren am 8. August 2005 eröffnet und zählte seither eigenen Angaben zufolge mehr als zwei Millionen Besucher. Für das Haupthaus und einen Erweiterungsbau zur Einwanderungsgeschichte wurden rund 25 Millionen Euro investiert, wobei das meiste Geld aus öffentlichen Kassen stammt.

Das Erlebnismuseum steht an einem historischen Ort: Von Bremerhaven aus haben zwischen 1830 und 1974 rund 7,2 Millionen Menschen Europa verlassen, oft als Wirtschaftsflüchtlinge. Sie sahen in ihrer Heimat keine Perspektive mehr und wollten sich hauptsächlich in Amerika eine neue Existenz aufbauen.

In emotional inszenierten Lebensläufen dokumentiert das Auswanderhaus das Schicksal vieler Auswanderer und versucht so, ihre Ängste und Hoffnungen nachvollziehbar darzustellen. Für diese Arbeit hat die privat betriebene Einrichtung 2007 den Europäischen Museumspreis bekommen.

Ein Rundgang mit Nachbauten, Hörstationen und Originalobjekten führt auf rund 3.500 Quadratmetern Ausstellungsfläche in exemplarische Familiengeschichten ein, von denen das Museum derzeit insgesamt 3.000 gesammelt hat. Außerdem gibt es eine Fachbibliothek mit etwa 5.000 Sammelbänden, Enzyklopädien, Auswandererführern und Monografien aus Deutschland, den USA und Südamerika.

epd