Startseite Archiv Tagesthema vom 08. März 2015

Eingreifen statt wegschauen

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Sascha Metzdorff war gerade mit dem Auto auf dem Weg nach Hause, als es passierte. „Plötzlich lief vor mir eine junge Frau über die Straße - hinter ihr ein junger Mann. Im ersten Moment dachte ich an einen Streit. Dann sah ich, dass das Mädchen brannte. Ihr Oberkörper stand in Flammen.“ Der 27-Jährige aus Wangen im Allgäu reagierte blitzschnell. „Ich hab die Decke aus dem Kofferraum geholt, die Frau zu Boden geworfen und die Flammen mit der Decke erstickt.“ Von der Stadt Wangen im Allgäu erhielt er für seinen Einsatz den Zivilcouragepreis 2014.

„Zivilcourage ist wichtig in unserer heutigen Gesellschaft,“ sagt die Projektkoordinatorin des Wangener Preises, Marina Teichmann. „Jeder kehrt immer mehr nur vor seiner Haustüre, dabei schafft man doch gemeinsam viel mehr.“

Doch es geht um mehr. Andreas Mayer, Geschäftsführer der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes, stellt klar: „Jeder ist schon von Gesetzes wegen verpflichtet, anderen in ernsten Situationen zu Hilfe zu kommen.“ Wichtig sei es, nicht wegzusehen, wenn Menschen bestohlen, bedroht oder gar zusammengeschlagen werden.

Mit der Initiative „Aktion-tu-was“ macht sich die Polizei seit 2001 für die Förderung der Zivilcourage stark. „Manchmal hilft schon ein lautes Wort oder eine kleine Geste, um den Täter einzuschüchtern und von seinem Vorhaben abzubringen,“ weiß Mayer. „Niemand erwartet, dass jemand seine eigene Gesundheit aufs Spiel setzt und den Helden spielt.“ Mayer rät: „Sprechen Sie gezielt andere Menschen an: 'Sie, der Herr im Polo-Hemd: Helfen Sie mir´!“ Im Zweifel müsse man auch nicht aktiv in einen Konflikt einschreiten. Aber jeder könne den Notruf 110 wählen.

„Zivilcourage hat viele Gesichter“, betont Ramona Meisel, Projektkoordinatorin bei der „Aktion “ in Pirna. Der sächsische Verein setzt sich seit 1998 für zivilcouragiertes Handeln ein und bietet auch Trainings für Schulen, Unternehmen, Vereine oder Kirchengemeinden an. „Dabei fokussieren wir uns auf die alltäglichen Situationen, die zivilcouragiertes Handeln “, erklärt Meisel. „Im Unterricht spielen wir Situationen nach, etwa um einem Schüler Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, der von seinen Mitschülern gehänselt und ausgrenzt wird.“

Einem Menschen im Alltag aus einer Notlage geholfen hat auch der zehnjährige Moritz Buchmeier aus Niederwangen. Als ein befreundeter Schüler nach einer Rangelei im Pausenhof einen Asthmaanfall bekam, reagierte Moritz schnell und holte das Asthmaspray aus dem Schulranzen des Kumpels. „Ich hab auf nichts anderes mehr geachtet, einfach gemacht“, erzählt er rückblickend. Auch der Schüler wurde mit dem Zivilcouragepreis in Wangen ausgezeichnet.

„Zivilcourage bedeutet, freiwillig und öffentlich für allgemeine soziale Werte einzutreten - trotz möglicher persönlicher Nachteile“, erklärt Günter Koschig von der Opferschutzorganisation Weißer Ring. Dabei gelte: „Ich kann immer etwas tun“, sagt der ehrenamtlich engagierte Kriminalpolizist. „Unterstützung organisieren, gebührenfrei den Notruf wählen.“ Oft helfe es, sich in die Perspektive des Opfers zu versetzen.

Bundesweit ein Aushängeschild ist seit 2010 die „Goslarer Zivilcourage-Kampagne“ des Weißen Rings. Mehr als 80 prominente Schauspieler, Sportler, Politiker - von Sängern wie Heino bis hin zum Bundespräsidenten - wurden mit ihrem Statement zum Thema Zivilcourage fotografiert. „Zivilgesellschaftliches Engagement wie hier in Pirna ist mir wichtiger als die Sonntagsreden mancher Politiker“, erklärte etwa Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma.

„Zivilcourage ist leichter als man denkt“, ermutigt Koschig. Immer noch fänden zu viele Menschen Gründe, nicht zu helfen: Gleichgültigkeit, Angst um ihre Gesundheit, Bequemlichkeit, Zeitdruck, Unkenntnis oder die Überzeugung: „Die anderen werden schon was tun.“ Fälle wie der von Dominik Brunner, der 2009 an einem Münchner S-Bahnhof bedrängten Schülern helfen wollte und nach einer Prügelattacke starb, wirkten zudem negativ auf die Bereitschaft zur Zivilcourage.

Um richtig zu helfen, gibt der Weiße Ring Empfehlungen: Provozieren Sie den Täter nicht, gehen Sie in Bus oder Straßenbahn direkt zum Fahrer, bleiben Sie ruhig und behalten Sie die Selbstkontrolle. Und: Setzen Sie keine Waffen ein. „Beim Helfen ist stets Vorsicht geboten“, warnt Koschig. „Konzentrieren Sie sich immer auf das Opfer, nicht auf den Täter.“ Am besten sei es, das Opfer direkt anzusprechen. „Und wenn Sie mit dem Täter sprechen: Siezen Sie ihn, damit andere Passanten wissen, dass er Ihnen unbekannt ist.“

Falls dem Helfer etwas zustößt: In Deutschland sind Hilfeleistende grundsätzlich unfallversichert. Werden persönliche Gegenstände des Nothelfers wie Handy, Tasche oder das Auto beschädigt, greift die gesetzliche Unfallversicherung.

Die junge Frau, der Sascha Metzdorff geholfen hat, lag nach dem Unfall zunächst sechs Wochen im Koma. Ein halbes Jahr später trafen sich die 18-jährige Felicia Membarth und Metzdorff erstmals zu einem Kaffee. „Seitdem ist eine Freundschaft zwischen uns entstanden. Wir sind bis heute eng verbunden“, erzählt Metzdorff.

Hanna Eder (epd)

Mutig und Herausragend

Die 69-jährige Nazi-Gegnerin Irmela Mensah-Schramm hat den diesjährigen Göttinger Friedenspreis erhalten. Damit werde ihr langjähriger, mutiger und herausragender praktischer Einsatz für Frieden, Demokratie und Menschenrechte gewürdigt, heißt es in der Verleihungsurkunde der Stiftung Roland Röhl. Mensah-Schramm habe durch ihre „ausdauernden, konsequenten Aktivitäten ein bewundernswertes und vorbildhaftes Zeichen gesetzt.“ Die Stiftung vergibt den mit 3.000 Euro dotierten Preis seit 1999.

Die in Stuttgart geborene Mensah-Schramm hat es sich nach Angaben der Stiftung zur Aufgabe gemacht, die Straßen von rechten Hass-Parolen zu säubern und in den vergangenen 28 Jahren fast 100.000 Aufkleber und Schmierereien entfernt. Seit Mitte der 1990er Jahre zeigt sie in ihrer Wanderausstellung „Hass vernichtet“ eine Auswahl an Parolen, die sie vor dem Wegputzen fotografiert hat. Dazu bietet sie antirassistische Workshops für Schüler an.

Auslöser für ihre Aktivitäten sei die Erkenntnis gewesen, dass diese Hasssprüche durch „sich darüber zu ärgern“ nicht verschwänden, sagte Mensah-Schramm bei der Preisverleihung. „Mir wurde klar, durch Nichtstun kann auch nichts erreicht werden“. Zuerst sporadisch, dann immer mehr gezielt und kontinuierlich sei sie gegen das vorgegangen, „was die einen als Graffiti und die anderen als Schmierereien bezeichnen".“ Sie vernichte „die Hassgraffiti, weil ich den Hass vernichten möchte. Hass muss vernichtet werden.“

Stifter des Göttinger Friedenspreises war der Wissenschaftsjournalist Roland Röhl. Er befasste sich vor allem mit Fragen der Sicherheitspolitik und der Konfliktforschung. Röhl starb 1997 an Krebs. Frühere Preisträger waren unter anderem Pro Asyl und der SPD-Politiker Egon Bahr.

epd

Irmela Mensah-Schramm während der Verleihung des Göttinger Friedenspreises 2015.