Startseite Archiv Tagesthema vom 22. Februar 2015

Armenien? Gleich im zweiten Stock

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Nur noch ein paar Treppen steigen, dann ist das Ziel erreicht. Im zweiten Stock eines Bremer Mehrfamilienhauses liegt Armenien. Gleich hinter der Tür, die unzweifelhaft durch die vielen Schuhe im Flur markiert wird. Aus der Wohnung schallt babylonisches Stimmengewirr, im Wohnzimmer stehen auf wenigen Quadratmetern mehr als zehn Gäste beisammen. Sie alle haben sich heute einen Kurztripp in den Kaukasus vorgenommen. Die Aktion ist Teil der mittlerweile bundesweiten Initiative „Weltreise durch Wohnzimmer“.

„Sicherheitsgurte anschnallen, jetzt geht's los“, verkündet vergnügt Gastgeberin Nara Malkhasyan (41). Niemand stört es, dass Raum und Atemluft bereits etwas knapp geworden sind. „Egal, ob nun genug Platz ist oder nicht - wir haben ein großes Herz“, meint die „Reiseleiterin“, die als 19-Jährige vor den Folgen eines Erdbebens und vor dem Krieg zwischen ihrem Heimatland Armenien und Aserbaidschan nach Deutschland geflohen ist.

Catrin Geldmacher aus dem westfälischen Rheda-Wiedenbrück ist auf die bestechend einfache Idee gekommen, der sich bereits Gastgeber aus Nordrhein-Westfalen, Bremen, Niedersachsen, Berlin, Hessen und Bayern angeschlossen haben: „Für zwei Stunden öffnen Menschen mit ausländischer Herkunft ihr Wohnzimmer und erzählen von ihrer alten Heimat.“ Auf diese Art war Geldmacher schon in mehr als 50 Ländern und auf allen Kontinenten, was die Stempelabdrucke in einem Reisepass dokumentieren, den es speziell für diese Aktion gibt.

„Die Besuche verleihen den Ländern ein Gesicht“, hat Geldmacher erfahren. „Das politische Weltgeschehen rückt näher - der Inselstreit von China und Japan, der Bürgerkrieg in Syrien.“ Und der Bremer Organisator Jens Stangenberg meint, die Gäste lernten ein Land auf eine Weise kennen, wie es bei keiner Sigthseeing-Tour möglich sei. „Man sitzt auf dem Sofa zusammen, in Augenhöhe. Und es gibt einen Rollentausch: Zugewanderte werden zu Gastgebern.“

Oft kommen dabei Spezialitäten auf den Tisch. Nara Malkhasyan hat unter anderem pikant gewürztes Dörrfleisch, Basturma, armenisches Brot, Lawasch, und kaukasische Schaschlik-Spieße, Chorowaz, vorbereitet. Um das Büfett zu eröffnen, stößt sie nun mit armenischem Cognac an, ruft dazu statt „Prost“ laut „Genazed“ in das Stimmengewirr und lässt wie in ihrer Heimat üblich einen Friedensgruß folgen. Später zeigt sie Filme aus Armenien, erläutert Traditionen und sagt, wer in Armenien jemanden besuchen wolle, verabrede sich nicht: „Freunde kommen ganz spontan vorbei.“

Auf Sri Lanka essen die Menschen mit den Händen, weil es hygienischer ist. Im Irak zieht man die Schuhe in der Wohnung aus, weil auf dem Teppich gebetet wird. Wem es in China schmeckt, der schmatzt. Auf Kuba werden Geschichten getanzt: Geldmacher hat auf ihren Touren durch die Wohnzimmer schon viel gelernt. Im Mai 2011 gab es die erste Weltreise, nun sind es schon mehr als 120. „Und es gibt auch schon Anfragen aus Birmingham, Toronto, Detroit, Auckland und Melbourne“, freut sich die Initiatorin, die mittlerweile ihren Job als Deutschlehrerin an den Nagel gehängt hat, um sich ehrenamtlich auf das Projekt zu konzentrieren.

Zum Abschied serviert Nara in Bremen noch einen Mokka, ein starkes Gebräu, das noch einmal alle Lebensgeister weckt. „Mitreisender“ Bernd Habighorst ist von dem Abend beeindruckt. „Diese Menschen hier wollen das, was wir alle wollen: Frieden - und in Ruhe mit der Familie leben.“ Zum Schluss verabschiedet sich Nara bei ihm und allen anderen Gästen überschwänglich: „Ich habe neue Leute kennengelernt - schön, dass ihr alle da wart.“

Dieter Sell (epd)

Über Sitten und Gebräuche

Den Anstoß zu der Idee gab Hosni Malalla, der 2007 aus seiner irakischen Heimatstadt Ninive flüchtete, weil er dort als Angehöriger der Religionsgemeinschaft der Jesiden seines Lebens nicht mehr sicher war. Geldmacher unterrichtete ihn als Deutschlehrerin und war fasziniert von dem, was sie bei einer spontanen Essenseinladung in der Wohnung ihres Schülers erlebte: „Eine fremde Welt in meiner Stadt - total spannend“, schwärmt Geldmacher, die immer noch Kontakt zu den Malallas hält, die mittlerweile in Hannover leben.

Für Hosni gehört sie längst zur Familie. Bilder von ihr kleben in seinem privaten Fotoalbum, die Verwandtschaft im Irak kennt ihren Namen. „Sie bleibt im Herzen und im Kopf“, betont der junge Familienvater, der nun versucht, in Deutschland eine Existenz aufzubauen. Geldmacher freut sich über die Verbindung und betont, ihr käme es bei den Wohnzimmer-Reisen darauf an, „dass wir miteinander sprechen und nicht übereinander“. Über Sitten und Gebräuche, Wünsche und Hoffnungen, manchmal auch über Ängste. Für die Organisation sorgen meist Volkshochschulen oder auch kirchennahe Träger wie etwa die Bremer Initiative „Serve the City“.

Dieter Sell (epd)