Startseite Archiv Nachricht vom 03. Februar 2020

Literaturgottesdienst zur NS-Zeit weckt Kräfte für mitmenschliches Engagement

Die vollständige Darstellung von Archivmeldungen befindet sich noch im Aufbau. Schauen Sie in Kürze noch mal vorbei!

Osterholz-Scharmbeck. Was haben Hansaplast, Uhu und Gallseife gemeinsam? Sie sind drei emotionale Erinnerungsbilder, die Nora Krug als Literatin auf ihrer spannenden Zeitreise in die eigene Geschichte und die ihrer Familie entdeckt hat. Und sie sind starke Symbole im ersten Literaturgottesdienst, der am Donnerstag in der Buchhandlung schatulle stattfand. Vor dem Hintergrund des Gedenktags an die Befreiung des KZ Auschwitz erlebten die Gäste, wie aktuell und wichtig es ist, angesichts unserer NS-Vergangenheit als Christen Verantwortung zu übernehmen.

Mit Originalzitaten aus dem Buch „Heimat – Ein deutsches Familienalbum“, das 2019 mit dem Evangelischen Buchpreis ausgezeichnet wurde, folgten Pastor Eckhard Gering und Superintendentin Jutta Rühlemann den Spuren von Nora Krugs Entdeckungen. Barbara Hillmann zeichnete als Chronistin die Reisestationen von Nora Krug nach und Pastor Hans Jürgen Bollmann beleuchtete die historischen Fundstücke der Autorin aus heutiger christlicher Perspektive.

Krug ist im Buch auf Identitätssuche, sie fragt, wer sie als Deutsche ist, was sie als Heimat empfindet. Sie erinnert Heil-Hitler-Begrüßungen auf der Party in England, die Erzählung einer KZ-Überlebenden in New York oder ihren Wunsch als Schülerin, Worte wie Held, Kampf und Stolz aus ihrer Muttersprache zu streichen. Sie stöbert in Archiven und dem Familiennachlass, fragt Eltern und Zeitzeugen über NS-Verstrickungen, sortiert Bilder von der Klassenfahrt ins KZ Birkenau. Tief sitzt bei ihr das Gefühl, dass sie die Schuld der Vorfahren geerbt hat, die Erbsünde mitträgt. Hat sie Mitschuld?  

„Die Frage der Autorin ist unsere Frage an die eigenen Gefühle“, greift Bollmann die Erinnerungsbilder der rund 30 Zuhörenden auf. Er hält es für „angemessener von Verantwortung zu sprechen“, statt die „Konzepte von Kollektivschuld oder Erbsünde“ für unseren Blick auf die Nazizeit zu benutzen. „Wir sind verantwortlich für das, was nachwirkt aus der NS-Vergangenheit“. Und in symbolischer Anspielung auf Krugs liebgewonnene Kindheitserinnerungen Uhu, Hansaplast und Gallseife: „Es wurden und werden viele Risse zugeklebt, Wunden überdeckt und dunkle Flecken reingewaschen“.

Bollmann rät, wachsam zu sein und sich zu engagieren, wenn die Gräueltaten geleugnet werden und NS-Gedankengut neu auflebt. Beispielhaft nennt er die Rhetorik von AfD-Mann Björn Höcke, der das Berliner Holocaust-Mahnmal als „Schandmal“ abwertet.

Laut Bollmann bleibt Nora Krug nicht in ihrer Schuld gefangen. Sie hat auf ihrer Spurensuche die Erfahrung individueller Vergebung gemacht. Diese Vergebung bei alten und neuen Verfehlungen, so Bollmann, sei „den Christen durch Gottes Gnade immer neu zugesagt.“ So könnten Wunden vernarben und würden neue Lebensgestaltung und Zuversicht möglich. In Liedern, die durch Heilke Wellmann (Keyboard) und Nicolas Dunkel (Oboe) begleitet wurden, und in Gebeten feierten die Teilnehmenden des Gottesdienstes diese Zuversicht. 

Was nehmen sie mit nach Hause? Mehrere loben den „spannenden Zugang zu aktuellen Glaubensthemen“, sprachen von „eindrucksvollen Bildern“ und „intensiven Erinnerungen an eigene Erfahrungen“. Renate Meya (Ritterhude) fühlt sich bestärkt, „dass wir uns aktiv gegen Gewalt an Mitmenschen, Hetze und Polemik stellen müssen“ und betont die Pflicht aller, „dass sich die Gräuel der Vergangenheit nicht wiederholen“.

Superintendentin Jutta Rühlemann sieht den Literaturgottesdienst als „tolles Erlebnis“ und „wichtigen Baustein religiöser Bildung“, da die Themen des Buchs in jeder Biografie eine Rolle spielten. „Ich denke, wir können damit einen starken Appell senden, antisemitischen und rechtsradikalen Strömungen entschlossen entgegen zu treten.“

Auch Ute Gartmann, Mitinhaberin der schatulle, freut sich darüber, „dass die Kooperation von Kirche und Literatur so spannende Einsichten und Themen hervorbringt“. Die Zielgruppen und Anliegen beider Partner seien oft identisch. „Klar, dass wir hier ein Zeichen setzen für eine aktive Erinnerungskultur“.

Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis Osterholz-Scharmbeck