Startseite Archiv Tagesthema vom 29. September 2022

"Wärme statt Wut"

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Wegen der hohen Energiepreise geht die Sorge vor kalten Wohnungen um. Die evangelische Kirche will im Herbst und Winter praktische Hilfe und Beratung organisieren. Bei der Finanzierung soll auch die Energiepreispauschale helfen.

Vor dem Hintergrund steigender Energiepreise und drohender sozialer Notlagen hat die evangelische Kirche ihre Gemeinden aufgerufen, Wärmestuben und Beratungsangebote einzurichten.

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und ihr Wohlfahrtsverband Diakonie starteten am Dienstag in Berlin gemeinsam die Aktion #wärmewinter. Viele sorgten sich vor der Kälte, "in den eigenen vier Wänden - und vor der bürokratischen Kälte in den Kündigungsschreiben von Energieversorgern und Vermietern", sagte die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus. Dagegen wollen EKD und Diakonie "Herzenswärme" und konkrete Angebote auf die Beine stellen, "handfeste Taten", wie es Kurschus formulierte.

In einem Brief an Gemeinden und diakonische Werke rufen Kurschus und Diakonie-Präsident Ulrich Lilie dazu auf, Essensausgaben und Wärmestuben einzurichten, beheizte Kirchen oder kirchliche Häuser nach dem Gottesdienst oder zu anderen Zeiten offenzuhalten sowie Beratungsangebote zu schaffen, bei denen Menschen in Notlagen Informationen zu staatlichen Hilfen erhalten.

Der Zusammenhalt in der Gesellschaft stehe vor einer neuen Bewährungsprobe, erklärten Kurschus und Lilie. Politischen Radikalisierungen und spaltenden Tendenzen wie der Ausrufung eines "Wutwinters" wolle man mit konkreten Angeboten entgegentreten und so "die integrativen Kräfte unserer Gesellschaft stärken".

Finanziert werden sollen die Angebote unter anderem durch die im September ausgezahlte Energiepreispauschale, die für zusätzliche Kirchensteuereinnahmen sorgt. Da die Pauschale einkommensteuerpflichtig ist, wird automatisch auch Kirchensteuer davon abgeführt. Die zusätzlichen Einnahmen würden an vielen Orten bereits zur Finanzierung von Projekten im Sinne der Aktion #wärmewinter eingesetzt, hieß es vonseiten der EKD und der Diakonie. Wie viel mehr die Kirchen durch die Energiepreispauschale einnehmen, kann nach ihren Angaben nicht konkret vorausberechnet werden. Kurschus zufolge wird mit einem Beitrag in mittlerer zweistelliger Millionenhöhe gerechnet. "Damit lässt sich einiges machen", sagte sie.

Diakonie-Präsident Lilie rief zudem diejenigen, die das zusätzliche Geld vom Staat nicht wirklich brauchen, dazu auf, es an Ärmere oder Projekte zu spenden. "300 Euro machen einen Unterschied", sagte er.

Informationen für Kirchengemeinden zur Aktion von EKD und Diakonie gibt es auf der Internetseite www.waermewinter.de. Die Dachorganisationen appellieren an Gemeinden, ihre Aktionen unter dem gemeinsamen Titel und Logo - ein Herz mit umgebundenem Schal - im Ortsbild sichtbar zu machen für diejenigen, die Hilfe suchen. Eine digitale Übersicht der Angebote wird es den Angaben zufolge wegen des Aufwands zunächst nicht geben.

Die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine werden auch in Niedersachsen immer spürbarer. Gestiegene Energie- und Lebensmittelpreise sowie Sorgen vor einer Gasmangellage und eine weiter steigende Inflation wirken in alle Bereiche unserer Gesellschaft. Ein Bündnis des Landes Niedersachen informiert fortlaufend über die weitere Entwicklung im Bereich Energieversorgung, über Einsparmöglichkeiten, über aktuelle Maßnahmen der Landesregierung sowie über Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen.

Für Kirchengemeinden und kirchliche Einrichtungen stellt die Landeskirche Empfehlungen und Hinweise zur Verfügung. SIe werden entsprechend der Vorgaben des Landes Niedersachsen und des Bundes angepasst.

"Energie ist zum Luxusgut geworden."

Melanie Schmidt ist beim Diakonischen Werk Leine-Solling Ansprechpartnerin für Menschen in Krisen und Notfallsituationen. Die Zahl der Hilfesuchenden hat in den vergangenen Wochen stark zu genommen – und oft kommen Helfer wie Melanie Schmidt selbst an ihre Grenzen. Aber was ist so anstrengend, was plagt die Menschen in diesem Herbst besonders? „Bislang habe ich überwiegend Familien und Alleinerziehende mit geringem oder gar keinem Einkommen und Geringverdiener, die mit ihrem Geld einfach nicht über die Runden kommen, beraten“, erzählt die Kirchenkreissozialarbeiterin, die seit zwölf Jahren für das Diakonische Werk Leine-Solling berät.

Seit einigen Wochen fühlt sich die resolute Frau erstmals hilflos – weil der steigende Bedarf an Unterstützung neue Ausmaße annimmt. „Zu uns kommen Familienväter, die ein gutes Einkommen, aber mehrere Kinder haben und ohne den Verdienstausfall der Frau, die sich um das jüngste Kind kümmert, nicht in der Lage sind, die neuen Abschläge vom Energieversorger zu stemmen“, so Melanie Schmidt. 600 Euro werden bei einer Familie künftig im Monat fällig, allein für die Gaslieferung. Die Stromabrechnung wird für Ende des Jahres erwartet. „Energie ist scheinbar zum Luxusgut geworden und das macht mich einfach traurig und ratlos“, sagt die Sozialarbeiterin, die den Hilfesuchenden Wege aufzeigt, wie und wo sie ihre sozialrechtlichen Ansprüche wie Sozialhilfe, Wohngeld, ALG II oder Kinderzuschlag klären können. Was viele „Neulinge“ nicht wissen: Wer durch zu hohe Energiekostenabschläge kurzfristig einen finanziellen Engpass überbrücken muss, hat die Möglichkeit, beim Landkreis oder Jobcenter übergangsweise Sozialleistungen zu beantragen.

Darüber müssten die Energieversorger ihre Kunden in ihren Bescheiden informieren“, sagt Melanie Schmidt und gibt gleichzeitig zu bedenken, was die explodierenden Energiepreise für den Staatshaushalt bedeuten, der ja über Sozialleistungen einen Großteil auffangen muss. Einen möglichen Härtefallfonds der Diakonie will sie für Zuschüsse für ihre Klienten nicht antasten. „Wer soll hier entscheiden, welche Familie einen Zuschuss bekommt und welche leer ausgehen muss? Das Problem kann nur politisch gelöst werden.“

Aber Entscheidungsprozesse in der Politik können dauern. Ginge es nach Melanie Schmidt, würde sie den Menschen, die zu ihr kommen, wenigstens mit Energiegutscheinen statt wie bisher mit Lebensmittelgutscheinen versorgen. „Eine warme Dusche und geheizte Räume gehören schließlich genauso zu den Grundbedürfnissen, wie Brot und Tee auf dem Tisch“, so Kirchenkreissozialarbeiterin.

Tanja Niestroy/EMA