Startseite Archiv Bericht vom 15. September 2022

"Jetzt grüßen sie sich im Supermarkt ..."

Welche Bedeutung haben kirchliche Kitas und Familienzentren für die Gesellschaft?

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An einen Moment denkt Esther Nest besonders gerne zurück. "Tischgebet? Ne, finde ich nicht so gut." Der Vater, der in diesem Moment vor ihr steht, macht aus seinem muslimischen Glauben keinen Hehl. Er möchte sein Kind eigentlich ganz bewusst in Nests Kindertagesstätte anmelden. Sein Kind soll eben dort seine ersten Freundschaften schließen, wo es später auch die Grundschule besuchen wird. Aber zu einem christlichen Gott beten - vor jedem Essen? Der Vater zögert.

Esther Nest leitet eine der beiden Kitas der Kirchengemeinde in Westercelle. Insgesamt 175 Plätze stellen sie, weitere Krippenplätze bietet die Caritas um die Ecke an. Eine städtische Einrichtung gibt es in diesem alt gewachsenen Stadtteil Celles nicht. Was nun? Nest, selbst Kirchenvorstand in einer anderen Kirchengemeinde, hat dem Vater klar erklärt, was es bedeutet, sein Kind in in einen kirchlichen Kindergarten zu schicken. "Wir erwarten, dass alle, die hier herkommen, unseren Werten gegenüber genauso offen gegenübertreten, wie wir offen sind für sie." Der Vater lässt sich dies durch den Kopf gehen - und sagt zu.

Nein, sagt Nest, ein Familienzentrum sei ihre Kita nicht. Sagt es, zögert - und erzählt. Vom dörflichen Charme Westercelles, davon, dass sich letztlich doch irgendwie alle begegnen. "Wir arbeiten hier alle zusammen: Die Kitas, die Grundschulen, die Oberschule." Aus dem Ortsgefüge seien sie nicht wegzudenken. Wer auch immer eine Partnerschaft suche für einen karitativen Zweck, lande ohnehin bei ihnen: die Feuerwehr, der Schützenverein, ...

Nest erzählt, dass die Gruppen in beiden Kitas sehr durchmischt sind. "Rund ein Drittel aller Kinder in beiden Einrichtungen haben inzwischen einen Migrationshintergrund." Das war nicht immer so. Aber mit dem großen Gewerbegebiet hat das Bildungsbürgertum Westercelles eben auch einen Gutteil neuer Nachbarschaft gewonnen. "Und das merken die Menschen zu allererst in einer Kita." So niedrig sei die Hemmschwelle nirgends. "Höchstens noch bei der Tafel."

Was Esther Nest in Westercelle ein gewachsenes Gefüge nennt, beschreibt Doris Lehrke-Ringelmann rund 25 Kilometer weiter südlich als geradezu natürliche Konsequenz. Lehrke-Ringelmann ist "Koordinatorin im Familienzentrum der Paulusgemeinde". Der gravierendste Unterschied zwischen den beiden Einrichtungen liegt buchstäblich in ihnen: der Neubau am südöstlichen Stadtrand Burgdorfs verfügt eben nicht nur über Räume für die Kinderbetreuung. Bei ihm sind die Folgen von Kitas wie in Westercelle einfach schon mitgedacht. "Dass wir die Kinder der geflüchteten Frauen aus der Ukraine aufnehmen, reicht ja nicht." Die Mütter selbst wollen Deutsch lernen - und das können sie jetzt in den neuen Räumen.

Das Burgdorfer Familienzentrum gründet auf rund 20 Jahren Erfahrung, die die einstige Nur-Kita in Burgdorfs Südstadt förmlich sammeln musste. Als an den Rand der Stadt immer mehr Migranten zogen. Als der Bedarf für einen Mittagstisch für deren Kinder förmlich explodierte. Als klar war: "Ohne unsere Hausaufgabenhilfe, ganz bewusst in ganz kleinen Gruppen, haben die keine Chance."

Integration, das Zusammenbringen vieler verschiedener Menschen und ihrer Erfahrungen, einfach weil ihre Kinder dieselbe Einrichtung besuchen, diese Funktion eint Westercelle und Burgdorfs Südstadt. "Diese Menschen hätten sich sonst nie kennengelernt", sagt Lehrke-Ringelmann. "Und jetzt grüßen sie sich im Supermarkt an der Kasse."

Das aber gelte nicht nur für die Eltern der betreuten Kinder, sondern auch für die Menschen, die sich um sie kümmern. "Wir arbeiten hier mit einem großen Netzwerk Ehrenamtlicher. Und das sind oft Menschen, die ihre beruflichen Kompetenzen hier einbringen - und zugleich nach dem Ende ihrer Berufstätigkeit wieder ein Stück zurück ins Leben kommen."

Wer Lehrke Ringelmann nach einem spontanen Wunsch fragt, dem springt ein "grundständig!" entgegen. Gemeint ist: Grundständiges Personal, weil grundständig und eben nicht nur projektbezogen bezahlt. "Ich kenne noch die Zeit als arbeitslose Pädagogin, als man einfach alles angenommen hat. Diese Zeiten sind vorbei. Berufsanfänger machen das nicht mehr mit." Wer heute eine Stelle in einer Kita annehme, "will einen echten Job mit richtigem Gehalt."

Rebekka Neander/EMA

"Für beide Seiten ist das eine große Chance!"

Herr Siegmann, neben dem Betrieb von Kitas mit allem Personal stellen Kirchengemeinden und -kreise auch eine Reihe von Gebäuden. Welche finanziellen Auswirkungen hat dies?

Rund 300 Kindertagesstättengebäude befinden sich im Eigentum kirchlicher Körperschaften. Hierdurch werden die Kommunen, die die Rechtsansprüche auf Betreuungsplätze sicherstellen müssen, enorm entlastet. Leider beteiligen sich einzelne Kommunen nicht angemessen an der Bauunterhaltung dieser Gebäude, obwohl sie der Umsetzung der Rechtsansprüche dienen.

Welche Folgen hätte ein Ende kirchlichen Engagements bei der außerschulischen Kinderbetreuung für die Kommunen?

Durch die geplante Einführung eines Ganztagsangebotes an Grundschulen werden zusätzliche Lehr- und Betreuungskräfte benötigt. Dieses wird aufgrund des Fachkräftemangels in den nächsten Jahren kaum flächig realisiert werden können. Zudem stellt sich die Frage, ob und wie die kirchlichen Hortgruppen weitergeführt werden können.

Neben den Kirchen gibt es eine Reihe anderer freier Träger für die Kinderbetreuung. Welche Bedeutung innerhalb dieser Träger hat das kirchliche Engagement?

Die evangelischen Kirchen in Niedersachsen sind die größte freie Trägergruppe mit rund 1.100 Kindertageseinrichtungen. Es sind also ungefähr 20% der Betreuungsplätze, die evangelisch ausgerichtet sind. Für jede Kirchengemeinde, die in ihrem Bereich mit einer evangelische Kindertagesstätte zusammenarbeitet, entstehen viele Kontakte zu Familien in der Gemeinde. Für beide Seite ist das eine große Chance.

Kirchliche Kindertagesstätten verknüpfen ihre Arbeit in der Regel mit dem Leben innerhalb der Gemeinde, innerhalb des sozialen Umfelds. Nicht selten entstehen regelrechte Familienzentren. Wer profitiert von diesem Netzwerk?  

Durch solche Verknüpfungen konnte in der Landeskirche in den letzten Jahren über 40 Familienzentren aufgebaut werden. Letztlich profitieren alle im Stadtteil von solchen Möglichkeiten. In den letzten Monaten konnten z.B. viele Kirchengemeinden und diakonische Träger in Familienzentren Angebote (Kinderbetreuung und Sprachkurse) für geflüchtete Kinder und Mütter aus der Ukraine aufbauen. Das Vorhandensein solcher Strukturen ist ein wichtiger Beitrag zur Integration und zur Stabilisierung des Gemeinwesens.

Rebekka Neander/EMA

Zahlen zum Staunen

In der Landeskirche Hannovers befinden sich aktuell 694 Kindertagesstätten mit rund 57.000 Plätzen in Trägerschaft kirchlicher Körperschaften. Die 57.000 Kinder werden in rund 2.500 Gruppen betreut: 1.400 Halbtagsgruppen, knapp 1.000 Ganztagsgruppen und rd. 100 Hortgruppen.
 
Neben den Leitungen der Kindertagesstätten und den dort tätigen Fach- und Betreuungskräften werden auch Mitarbeitende im hauswirtschaftlichen Bereich und zur Raumpflege beschäftigt. Insgesamt sind mehr als 9.000 Mitarbeitende in den evangelischen Kindertagesstätten der Landeskirche Hannovers beschäftigt.
 
Nach kommunalen Erhebungen fehlen rund 3.500 Fachkräfte in Niedersachsen infolge des Fachkräftemangels.
 
Die Landeskirche Hannovers beteiligt sich jährlich mit rund 27 Mio. Euro an der Finanzierung der Kindertagesstätten und fördert die fachliche Begleitung und Fortbildung, insbesondere die religionspädagogische Qualifizierung mit weiteren 450.000 Euro. Zur Mitfinanzierung der Kosten der Ausbildung von pädagogischen Fachkräften an sechs evangelischen Fachschulen werden weitere 1,2 Mio. Euro aufgewendet.

Diakonisches Werk in Niedersachsen