
Die hannoversche Landeskirche plant einen breit angelegten Zukunftsprozess. Unter dem Motto „#Kirche 2030 – Gemeinsam mehr sehen!“ sollen sämtliche Arbeitsfelder der Kirche durchleuchtet werden. Seit dem Beschluss der Landessynode arbeitet ein Koordinierungsrat an der Umsetzung der ersten Schritte. Der Vorsitzende des Koordinierungsrates, Regionalbischof Friedrich Selter, und die stellvertretende Vorsitzende, die Synodale Christine Rinne, geben im Interview Auskunft über den Stand der Dinge.
Frau Rinne, seit November 2021 ist die Idee des landeskirchlichen Zukunftsprozesses in der Welt. Welche Reaktionen sind Ihnen seitdem begegnet?
Christine Rinne: Mir sind eine ganze Menge Reaktionen begegnet und auch eine ganz schöne Bandbreite. Die einen sagen: Darüber reden wir seit 20 Jahren und es passiert nicht viel. Die glauben auch nicht, dass jetzt viel passiert. Auf der anderen Seite gibt es eine große Offenheit und Menschen, die sagen: Es ist wichtig, dass etwas auf den Weg kommt, und diesen Weg wollen wir gern mitgestalten.
Herr Selter, bitte schildern Sie noch einmal aus Ihrer Sicht, warum der Prozess notwendig ist.
Friedrich Selter: Er ist deswegen notwendig, weil sich unsere Gesellschaft in den zurückliegenden Jahren stark verändert hat und wir als Kirche auf diese Veränderungen eingehen müssen. Unser Auftrag bleibt ja derselbe: das Evangelium in Wort und Tat so in die Gesellschaft hineinzutragen, dass die Menschen es auch hören können. Wir stellen fest, dass viele Formate in einer lebendigen Gemeinde auch heute funktionieren. Es gibt aber ebenso Gemeindeglieder, zu denen wir immer mehr den Kontakt verlieren. Der Zukunftsprozess soll uns neue Perspektiven auf unsere Kirche eröffnen. Gemeinsam mit allen, die Lust haben mitzumachen, wollen wir mehr sehen.
Das Zukunftsprozess-Team, kurz ZP-Team, steht kurz vor dem Start: viereinhalb neue Stellen, die für die Begleitung des Prozesses geschaffen worden sind. Herr Selter, gibt es eigentliche viele Bewerbungen für diese Arbeit, die auf zweieinhalb Jahre befristet ist?
Selter: Oh ja, es gibt ganz erfreulich und überraschend viele Bewerbungen. Und zwar von Menschen, die Berufe innerhalb, aber auch außerhalb der Kirche haben.
Frau Rinne, Zukunftsprozess klingt erst einmal verheißungsvoll, aber die Ausgangssituation ist kritisch: Die Kirche muss schauen, wie sie bei sinkenden Mitgliederzahlen, sinkenden Einnahmen und weniger Personal ihrem Auftrag nachkommen kann. Wie lassen sich auf dieser Grundlage Menschen zum Mitdenken und Mitmachen motivieren?
Rinne: Wir möchten wirklich alle ermutigen, mitzumachen und auch gänzlich neue Wege auszuprobieren – und dafür müssen wir Formen finden. Das ist die große Herausforderung, die wir oder in erster Linie das ZP-Team meistern müssen. Ich nenne das gerne Freiflug, weil es keine Blaupause, keine Anleitung dafür gibt.
Herr Selter, die Synode wünscht sich einen Blick über den eigenen Kirchturm hinaus, es soll ein digitales Ideenportal, Forschungsteams und Erkundungsworkshops geben. Sie möchten erfahren, wie etwa Vereine, Kommunen oder Non-Profit-Organisationen mit den Herausforderungen der Zukunft umgehen oder ein Automobil-Bauer die digitale Transformation bewältigt. Was könnte sich die Kirche Ihrer Meinung nach von einem Autobauer abschauen?
Selter: Ich würde vielleicht sagen, die Kundenorientierung. Ich glaube, dass Firmen sehr viel Energie aufwenden, um den Bedarf und die Wünsche der Menschen herauszufinden. Sie betreiben Marktforschung, um auf das Lebensgefühl der Menschen zu reagieren und sie dort abzuholen. Ich glaube, dass wir da als Kirche nochmal deutlicher gucken müssen – nicht mit diesem Verkaufsinteresse, sondern eher im Sinne Martin Luthers, der dem Volk aufs Maul schauen wollte. Wir können uns bei den Menschen nur verständlich machen, wenn wir verstehen, wie sie denken. Ich glaube, darin sind manche Firmen ziemlich stark – und davon können wir lernen.
Die verändern dann aber bei mangelnder Nachfrage ihr Produkt – oder nehmen es vom Markt.
Selter: Unser Produkt ist das Evangelium und das nehmen wir ganz bestimmt nicht vom Markt. Aber den Begriff des „Produktes“ mag ich eigentlich nicht. Denn das Evangelium stellen wir ja nicht her und es bleibt uns letztlich unverfügbar. Zu seinen Eigenschaften gehört, dass es nicht besessen, sondern nur geteilt werden kann. Das ist ja gerade das Spannende. Aber zum Stichwort Veränderung: Wir müssen vielleicht – wie Unternehmen auch – Formen und Wege verändern, damit die Menschen wieder den Wert des Glaubens erkennen können.