Die Teilnahme an Bibelstunden und anderen Aktionen ist freiwillig. Doch spätestens wenn es auf die Entlassung zugeht, versucht Holger Reiss, wenigstens einmal mit jedem Inhaftierten der JVA Celle zu sprechen. „Wir wollen schauen, ob es eine Perspektive gibt: Manche können zu ihrer Familie zurückgehen, haben vielleicht sogar Arbeit bei einem selbstständigen Bruder in einer Werkstatt in Aussicht oder so etwas. Bei anderen versuchen wir, Arbeit und eine Wohnung zu vermitteln“, sagt Holger Reiss. Einmal stellte das Schwarze Kreuz beispielsweise Kontakt zum Brandmeister der Freiwilligen Feuerwehr des Wohnortes her, der den Ex-Gefangenen in die Gruppe aufnahm. „Der ist nun seit drei Jahre super motiviert dabei und begeistert jetzt seine Tochter ebenfalls für die Feuerwehr“, erzählt Reiss.
Auch um scheinbar banale Alltagstechnik geht es – schließlich hat sich die Welt da draußen in Jahren oder sogar Jahrzehnten verändert: „Klappt das, eine Fahrkarte am Automaten zu kaufen oder Geld abzuheben?“, erzählt Holger Reiss. „Und dann kommen solche Fragen wie: Wie reagiere ich, wenn ein Kollege herausfindet, dass ich im Knast war und vielleicht sogar nicht mehr mit mir arbeiten will? Darauf sollte man sich vorbereiten.“
Aber es gibt auch die ganz anderen Fälle, die, die nicht mehr „raus“ wollen. „Ich kenne einen Inhaftierten, der sitzt seit etlichen Jahrzehnten ein“, erzählt Holger Reiss. „Er stellt keine Anträge auf Freigang oder so, nichts in der Art. Er sagt: Was soll ich da draußen, ich kenne diese Welt nicht mehr.“
Wie geht man mit so jemandem oder anderen Inhaftierten um, kann man überhaupt Hoffnung machen? „Naja, erstmal kann man für jemand anderen keine Hoffnung herstellen“, sagt Inga Teuber. „Was ich tun kann, ist, einzelne Punkte aufzunehmen und fragen: Was kannst du daraus lernen? Kannst du nicht Hilfe holen, gibt es nicht auch Strukturen, die dir helfen? Denn eins ist immer klar: Ich habe demjenigen nichts zu sagen und schon gar nichts zu raten – er lebt in einer ganz anderen Welt als ich, die ich von außen niemals verstehen kann. Ich kann nur mit offenen Augen und Ohren lesen und Fragen stellen: Warum ist dies oder jenes so? Das ist übrigens auch für mich bereichernd, die Übung in Toleranz und Akzeptanz, das Einstellen auf eine fremde Sichtweise. Das Ganze ist keine Einbahnstraße.“
Das schildert Ute Passarge ebenso eindrücklich: „Neulich sagte eine Ehrenamtliche zu mir – halb ironisch und lachend: ,So ein Mist, da wollte ich einfach mal etwas Gutes tun und einen Briefkontakt übernehmen - und nun ändert sich meine ganze Weltanschauung durch den Kontakt zu meinem Briefpartner - das wollte ich gar nicht.‘ Diese `Nebenwirkungen´ sehen wir natürlich sehr gern!“
Christine Warnecke/Themenraum