Startseite Archiv Tagesthema vom 01. Februar 2022

Straffälligenhilfe: kein "normales" Ehrenamt

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Sie haben betrogen, geraubt, Menschen verletzt oder gar getötet. Dafür sitzen sie nun hinter hohen, grauen Betonwänden, auf denen Stacheldraht und Überwachungskameras thronen. Die Verurteilten, die Ausgestoßenen, die Weggesperrten, die in den Justizvollzugsanstalten sitzen, stehen, liegen, leben in einer eigenen Welt, „an einem Ort ohne Liebe“, sagt Inga Teuber. „Die Inhaftierten erfahren viel Ablehnung. Ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und nicht nach ihrer Tat und Schuld zu fragen, ist nicht das, was sie erwarten“, erzählt die 47-Jährige. Doch sie und andere Ehrenamtliche tun genau das, indem sie Briefe an Inhaftierte schreiben, sich nach ihnen erkundigen, mit ihnen im Austausch sind. „Ich wollte ein Ehrenamt haben, das nicht gewöhnlich ist – wo ich mich etwas trauen muss“, sagt Inga Teuber. Sie fand es beim Verein Schwarzes Kreuz - das ist jetzt fünf Jahre her. Die Bewerbung dort bereut sie nicht.

Die hauptberufliche Diakonin kannte sich mit Seelsorge und der Begleitung von Menschen schon von Berufs wegen etwas aus. Über das Internet wurde sie auf das Schwarze Kreuz aufmerksam, das Verurteilten zu einem neuen Leben helfen und für Angehörige da sein will. Inga Teuber war gleich fasziniert: „Gefängnisse mit diesen straffen Strukturen und Hierarchien – das hat mich gereizt, da geistig rein zu gehen und mich mit diesen Menschen zu beschäftigen.“ 
Sie ist eine von bundesweit etwa 600 Ehrenamtlichen, die zum Beispiel Briefe mit den Inhaftierten schreiben. Manche treffen sich sogar persönlich mit ihnen, zum Beispiel zu Gesprächen oder in Bibelkreisen. In Celle gibt es das „Kreativ-Café“. Inhaftierte, die die Gefängnismauern dank einer Lockerung hin und wieder verlassen dürfen, begegnen hier Ehrenamtlichen und anderen Interessierten für Aktivitäten wie Informationsnachmittage oder Spaziergänge. „Die Inhaftierten, die bei solchen Veranstaltungen mitmachen, wollen sich austauschen und ein bisschen geistige Nahrung mitnehmen. Wenn man jahrelang eingesperrt sitzt, kommt man fast zwangsläufig dazu, auch mal über sich und die Welt nachzudenken“, sagt Diakon Holger Reiss. Er leitet in Celle die Anlaufstelle für Straffällige, das  „Projekt Brückenbau“, und ist einer der wenigen Hauptamtlichen. Die Inhaftierten der JVA Celle - allesamt Männer - sitzen nur ein paar Gehminuten von den Räumen des Vereins entfernt mindestens fünf Jahre ein. Wer dort landet, hat sich weit mehr als ein Kavaliersdelikt geleistet.

Für den Verein geht es um den Kern des Christentums: zu den Ausgestoßenen, am Rande Stehenden zu kommen. Für die Gefangenen, die die Angebote annehmen, geht es oft um existenzielle Fragen, erzählt Ute Passarge, die für die Öffentlichkeitsarbeit und Begleitung der Ehrenamtlichen zuständig ist: „Den Inhaftierten gehen manche Bibelstellen viel mehr ans Herz als uns „draußen“. Beispielsweise steht bei Jesaja der Satz `Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden.‘ Auch das Buch Hiob spricht mich ganz anders an, wenn ich selbst einen Tiefschlag erlebt habe. Die Inhaftierten kennen dieses Gefühl, dass alles weg ist, alles verloren – und nur noch Gott da ist. Und dann zu lesen: Bei Gott ist alle Schuld vergeben – vielleicht nicht in der Gesellschaft, aber dort, bei ihm: Das ist ein Anfang und eine wirklich gute Botschaft.“

Inga Teuber spürt in den Briefen, die sie von Inhaftierten bekommt, deutlich deren Grenzen: „Sobald nach einigen Briefen ein wenig Vertrauen gewachsen war, war ich der seelische Mülleimer. Da wurde mir alles vor die Füße geworfen. In dem Moment wusste ich, dass ich die Einzige bin, wo das geht, denn im Knast gibt es kein Vertrauen. Nur manchmal vielleicht zur Gefängnisseelsorge. Was diese komplette Überwachung im Gefängnis heißt, können wir uns, glaube ich, gar nicht vorstellen. Wir sind die einzigen, denen man was von der Leber weg erzählen kann, ohne dass es Konsequenzen hat.“ 

„Es gibt zwar natürlich viele Bedienstete in den Justizvollzugsanstalten, die sich um die einzelnen Gefangenen sehr bemühen“, ergänzt Holger Reiss. „Sie können ihnen aber leider oft nicht das Gefühl von Vertrauen vermitteln. Die Gefangenen sind oft durch schlechte Erfahrungen geprägt und öffnen sich nur sehr vorsichtig.“ 
Inga Teuber kann als Briefkontakt (nur Kontakt, nicht Freundschaft) ein wenig das vermitteln, was die Inhaftierten sonst nicht mehr finden: Akzeptanz. „Es geht darum, liebevoll auf eine Situation zu blicken, die in sich nicht ein Fünkchen von Liebe enthält. Sie brauchen nicht noch jemandem, der in sie dringt, auf der Suche nach der Wahrheit oder was auch immer, das haben Richter und Anwälte schon getan. Im Grunde geht es um Menschenliebe.“

Die Teilnahme an Bibelstunden und anderen Aktionen ist freiwillig. Doch spätestens wenn es auf die Entlassung zugeht, versucht Holger Reiss, wenigstens einmal mit jedem Inhaftierten der JVA Celle zu sprechen. „Wir wollen schauen, ob es eine Perspektive gibt: Manche können zu ihrer Familie zurückgehen, haben vielleicht sogar Arbeit bei einem selbstständigen Bruder in einer Werkstatt in Aussicht oder so etwas. Bei anderen versuchen wir, Arbeit und eine Wohnung zu vermitteln“, sagt Holger Reiss. Einmal stellte das Schwarze Kreuz beispielsweise Kontakt zum Brandmeister der Freiwilligen Feuerwehr des Wohnortes her, der den Ex-Gefangenen in die Gruppe aufnahm. „Der ist nun seit drei Jahre super motiviert dabei und begeistert jetzt seine Tochter ebenfalls für die Feuerwehr“, erzählt Reiss.

Auch um scheinbar banale Alltagstechnik geht es – schließlich hat sich die Welt da draußen in Jahren oder sogar Jahrzehnten verändert: „Klappt das, eine Fahrkarte am Automaten zu kaufen oder Geld abzuheben?“, erzählt Holger Reiss. „Und dann kommen solche Fragen wie: Wie reagiere ich, wenn ein Kollege herausfindet, dass ich im Knast war und vielleicht sogar nicht mehr mit mir arbeiten will? Darauf sollte man sich vorbereiten.“ 
Aber es gibt auch die ganz anderen Fälle, die, die nicht mehr „raus“ wollen. „Ich kenne einen Inhaftierten, der sitzt seit etlichen Jahrzehnten ein“, erzählt Holger Reiss. „Er stellt keine Anträge auf Freigang oder so, nichts in der Art. Er sagt: Was soll ich da draußen, ich kenne diese Welt nicht mehr.“

Wie geht man mit so jemandem oder anderen Inhaftierten um, kann man überhaupt Hoffnung machen? „Naja, erstmal kann man für jemand anderen keine Hoffnung herstellen“, sagt Inga Teuber. „Was ich tun kann, ist, einzelne Punkte aufzunehmen und fragen: Was kannst du daraus lernen? Kannst du nicht Hilfe holen, gibt es nicht auch Strukturen, die dir helfen? Denn eins ist immer klar: Ich habe demjenigen nichts zu sagen und schon gar nichts zu raten – er lebt in einer ganz anderen Welt als ich, die ich von außen niemals verstehen kann. Ich kann nur mit offenen Augen und Ohren lesen und Fragen stellen: Warum ist dies oder jenes so? Das ist übrigens auch für mich bereichernd, die Übung in Toleranz und Akzeptanz, das Einstellen auf eine fremde Sichtweise. Das Ganze ist keine Einbahnstraße.“

Das schildert Ute Passarge ebenso eindrücklich: „Neulich sagte eine Ehrenamtliche zu mir – halb ironisch und lachend: ,So ein Mist, da wollte ich einfach mal etwas Gutes tun und einen Briefkontakt übernehmen - und nun ändert sich meine ganze Weltanschauung durch den Kontakt zu meinem Briefpartner - das wollte ich gar nicht.‘ Diese `Nebenwirkungen´ sehen wir natürlich sehr gern!“ 

Christine Warnecke/Themenraum

Das Schwarze Kreuz

Die christliche Straffälligenhilfe Schwarzes Kreuz e.V. hilft seit 1925 bundesweit Straffälligen und ihren Angehörigen durch ehren- und hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie ist der Diakonie Deutschland angeschlossen. Finanziert wird die Arbeit überwiegend durch Spenden.
Mitarbeitende und Ehrenamtliche sagen: "Die Schuld von Straftätern wollen wir nicht verharmlosen. Aber es ist schwer für sie, in die Gesellschaft zurückzufinden. Wir unterstützen sie dabei – schon im Gefängnis."
In Celle betreibt es die Anlaufstelle für Straffällige „Projekt Brückenbau“. Für den Verein sind bundesweit rund 600 Ehrenamtliche und Mitglieder tätig.