Startseite Archiv Tagesthema vom 07. Juli 2020

Das Schweigegebot durchbrechen

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Katarina Sörensen erzählt, wie sie in den 80er und 90er Jahren missbraucht wurde: von dem evangelischen Pastor Jörg D. - einem Mann, dessen Jugendarbeit damals nicht nur sie in den Bann zog. "Im Rahmen dieser Jugendarbeit hat Jörg D. Missbrauch an Schutzbefohlenen begangen, und ich bin eine von diesen Personen", berichtet Sörensen. D. war damals Pastor im niedersächsischen Nenndorf bei Hamburg. Bei einem Pressegespräch im benachbarten Hittfeld machen Kirchenvertreter den Fall am Montag erstmals mit Ortsangabe und dem Namen des Täters öffentlich.

Sörensen ist dabei nicht persönlich anwesend. Ihr Bericht wird in einem Video eingespielt, in dem sie unkenntlich ist. Der Name ist ein Pseudonym. Schon seit Jahren arbeitet die Mittvierzigerin auf, was geschehen ist - für sich persönlich, aber auch mit Blick auf die Institution Kirche. Vor fünf Jahren hat sie den Fall der hannoverschen Landeskirche gemeldet, da war der Pastor bereits gestorben. Jetzt auch gegenüber der damaligen Gemeinde das Schweigen zu brechen, ist ihr wichtig, so hat sie es vorher an ihrem heutigen Wohnort dem Evangelischen Pressedienst (epd) erzählt. "Damals durfte ich nicht darüber reden, das wusste ich."

Im Pressegespräch formuliert es die heutige Gemeinde-Pastorin Katharina Behnke so: "Dass dies Schweigegebot nun durchbrochen wird, nimmt dem Täter etwas von seiner Macht." Jetzt sei es möglich, dass weitere Betroffene sich meldeten. Das Bild des Pastors müsse öffentlich korrigiert werden, so wie es nach einem vertraulichen Treffen mit Sörensen in einem Nachruf im archivierten Gemeindebrief geschehen sei, sagt Behnke. Dort stehe jetzt: "Wie sich durch glaubhafte Schilderung einer Betroffenen im Jahr 2017 herausgestellt hat, hat Herr D. in seiner Amtszeit in Nenndorf fortgesetzt Mädchen ab 14 Jahren in ihren Grenzen verletzt und durch sexualisierte Gewalt lebenslang traumatisiert."

Sörensen lernt D. als Konfirmandin kennen. Sie schildert ihn als einen Mann, der Jugendliche begeisterte. "Er brachte die Friedensbewegung oder die Dritte-Welt-Problematik aufs Dorf. Wir fanden das richtig toll." Der Pastor organisierte Konfirmandenfahrten. Ausgewählte Jugendliche wie sie selbst seien später als Teamer mitgefahren, berichtet Sörensen. "So ist er an uns herangekommen." Heute erkenne sie Muster eines planvollen Täter-Verhaltens. Bei Spielen mit Berührungen sei er mittendrin gewesen. "Es wurde normal, dass man den Pastor umarmte."

Ihre familiäre Situation war schwierig damals, bei dem Pastor fühlte sie sich beachtet und gesehen, erzählt sie. "Ich dachte, der Pastor küsst mich, dann kann ich nicht so schlecht sein." Bevor sie volljährig war, sei es zu schwerem sexuellen Missbrauch gekommen. Fortwährend habe der Mann, der deutlich älter war, verheiratet und bereits Kinder hatte, das Machtgefälle ausgenutzt und sie manipuliert. Um sich zu lösen zu lösen, habe sie Jahre gebraucht.

Später, als sie längst im Arbeitsleben steht, wird eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Viele Jahre habe sie gar nicht begriffen, dass es Missbrauch war, was sie für eine Liebesbeziehung hielt, sagt sie. "Es wird oft gesagt, bei uns gibt es so etwas nicht, nicht in der evangelischen Kirche, nicht auf dem Dorf. Es ist wichtig, darüber zu reden." Mit einem anderen Bewusstsein über sexualisierte Gewalt könne viel früher eingeschritten werden.

Als Sörensen Ansprechpartner bei der evangelischen Kirche sucht, findet sie zunächst nur immer dieselben Artikel über Missbrauchsfälle in Ahrensburg bei Hamburg. Erst 2015 stößt sie auf die Adresse der Missbrauchsbeauftragten der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und nimmt zu ihr Kontakt auf. Mit 35.000 Euro erhält sie später nach Kirchenangaben die höchste Summe, die die Landeskirche bisher in Anerkennung sexuellen Missbrauchs gezahlt hat. 

Nach ihrer Erfahrung hat die evangelische Kirche noch massiven Nachholbedarf in der Aufarbeitung. So seien Fortbildungen in der Kommunikation mit Betroffenen nötig. Selbst hat Sörensen bei Gesprächen häufig eine unabhängige Therapeutin aus einer Fachberatungsstelle hinzugezogen. "Das rate ich unbedingt." Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat im Herbst 2018 einen Elf-Punkte-Plan zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt beschlossen. Er sieht auch die Beteiligung von Betroffenen vor. Katarina Sörensen hat die EKD in dem Prozess zum Aufbau eines Betroffenenbeirates beraten und ist auch bereit, in diesem mitzuwirken.

Karen Miether / epd Landesdienst Niedersachsen-Bremen

"Null-Toleranz bei sexualisierter Gewalt"

Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers hat im Juni einen neuen Grundsätze-Katalog beschlossen, um gegen Fälle von sexualisierter Gewalt in der Kirche vorzugehen. Damit erweiterte sie ihre bereits seit zehn Jahren bestehenden Regelungen. Es gelte weiter eine "Null-Toleranz-Strategie", sagte Oberlandeskirchenrat Rainer Mainusch : " Wer in diesem Bereich Grenzen überschreitet, kann in der Kirche weder beruflich noch ehrenamtlich tätig sein. Wir werden mit aller Konsequenz verhindern, dass es in Zukunft in der Kirche zu weiteren Fällen kommt."

In den evangelischen Kirchen in Niedersachsen sind laut Mainusch aus der Zeit von 1945 bis heute rund 140 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen bekannt. Allein in der hannoverschen Landeskirche, der größten unter ihnen, sind es 123. Fast 90 Prozent der Fälle betrafen Heimkinder, also Kinder und Jugendliche, die bis Ende der 1970er Jahre im Rahmen der "Fürsorgeerziehung" in Einrichtungen der Diakonie untergebracht waren.

Doch auch Pastoren, Diakone, Erzieher und Musiker aus Kirchengemeinden gehörten zu den Tätern. Die Amtsträger hätten sich einer "gezielten Ausnutzung und Manipulation von Obhutsverhältnissen" schuldig gemacht, betonte Mainusch. In früheren Jahrzehnten habe außerdem die sehr starke öffentliche Autoritätsstellung von Pfarrern wesentlich dazu beigetragen, dass viele von sexuellem Missbrauch betroffene Menschen nicht den Mut gehabt hätten, ihren Fall offenzulegen.

Soweit die Kirchenleitung davon wusste, seien die Täter seit 1998 aus dem Dienst entfernt worden. Am Montag war der Fall eines 2013 verstorbenen Pastors aus der Gemeinde Rosengarten bei Hamburg bekanntgeworden, der seit 1987 über viele Jahre eine frühere Konfirmandin sexuell missbraucht hatte.

Die neuen "Grundsätze für die Prävention, Intervention, Hilfe und Aufarbeitung in Fällen sexualisierter Gewalt" nehmen eine 2019 erlassene Richtlinie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) auf. Sie beschreiben die Eckpunkte des landeskirchlichen Präventionskonzepts. Es sieht für alle beruflich und ehrenamtlich Mitarbeitenden, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, und für alle Leitungspersonen verpflichtende Fortbildungen zum Thema sexualisierte Gewalt vor.

Anschuldigungen und Verdachtsmomenten in konkreten Fällen sexualisierter Gewalt ist nach den Grundsätzen "unverzüglich und konsequent" nachzugehen. Die Landeskirche verpflichtet sich dabei, eng mit den staatlichen Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten.

Gleichzeitig will die Kirche die von Missbrauch betroffenen Menschen bei der individuellen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt unterstützen, etwa durch Beratung auch in nichtkirchlichen Einrichtungen, durch die Mitfinanzierung von Therapien und durch "Leistungen in Anerkennung des erlittenen Leids", die seit 2012 gezahlt werden.

Mainusch rief weitere Betroffene auf, sich bei den kirchlichen Ansprechstellen oder anderen Beratungseinrichtungen zu melden: "Wir wollen Sie ermutigen, das offenzulegen." Der Dialog mit Betroffenen sei wichtig, um deren Anliegen aufzunehmen und die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt laufend fortzuentwickeln.

epd-Landesdienst Niedersachsne-Bremen