Startseite Archiv Tagesthema vom 17. Oktober 2019

Frühstück auf der Kirchenbank

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Erste Studenten ziehen in umgebaute evangelische Kirche in Hannover ein

Gemeinsam mit ihrem Vater schleppt Alina Kerber (22) aus Varel bei Oldenburg Körbe und Umzugskisten die Treppe hoch. Über die frühere Orgelempore und einen kleinen Flur mit Eichenparkett führt der Weg in ihre neue Studentenbude. Darüber wölbt sich ein riesiges Dach aus Holz und Beton in die Höhe, und Buntglasfenster werfen bunte Lichteffekte auf die weißen Flurwände. Kerber, Studentin der Landschaftswissenschaften, hat ein Zimmer in einem der ungewöhnlichsten Wohnheime in Deutschland ergattert: in der umgebauten ehemaligen Gerhard-Uhlhorn-Kirche in Hannover. "Am Anfang konnte ich mir das nicht vorstellen", sagt Alina. "Aber als ich es dann gesehen habe, fand ich es total schön und war ganz begeistert."

Eine Kirche als Studentenwohnheim: Das ist die Idee von Projektentwickler Dirk Felsmann und seinem Partner Gert Meinhof. Sie haben das 1963 errichtete Gebäude vor drei Jahren gekauft. Die frühere evangelische Kirche, idyllisch gelegen am Leineufer, war wegen sinkender Mitgliederzahlen bereits 2012 entwidmet worden. Gemeinsam mit den Architekten Maria Pfitzner und Serge Moorkens entwickelten die Investoren die Idee, Zimmer für Studenten in die Kirchenhülle hineinzusetzen - in enger Abstimmung mit dem Denkmalschutz. Aus Sicht der Initiatoren ist es das erste Projekt dieser Art weltweit. Fünf Millionen Euro haben sie dafür investiert. "Wir haben nicht von der Stange gebaut, sondern in dem Raum, der uns vorgegeben war", betont Felsmann (55).

Entstanden sind so 27 möblierte Einzel- und Doppelzimmer auf zwei Etagen, dazu vier Sozialwohnungen im Souterrain. Fast alle Zimmer sind schon vermietet - kein Wunder bei mehr als 2.000 wohnungssuchenden Studierenden zum Wintersemester allein in Hannover. Acht Stunden war die Anzeige im Internet geschaltet, dann gab es schon genügend Interessenten. "Wir hätten jedes Zimmer dreifach belegen können", erzählt Felsmann. "Wir haben dann versucht herauszufinden, wer zueinander passt." 

Karolina Sacher (20) aus Aurich ist schon Ende September eingezogen und fühlt sich pudelwohl. "Es ist schon sehr besonders", erzählt sie. "Wenn man die Kirche betritt, fühlt man, dass es kein normales Studentenwohnheim ist. Es gibt gleich eine Gemeinschaft hier." Ihr Zimmer im ersten Stock hat Karolina schon gemütlich eingerichtet. Auf dem weißen Schreibtisch hat sie für ihr beginnendes Journalistik-Studium den Tablet-Computer aufgeklappt, daneben steht griffbereit ein Duden. Pinkfarbene Rosen schmücken den Raum. In einem Korb im Regal bewahrt sie Öl und Salz auf. "Ich fühle mich heimisch hier." 

Unter ihren Zimmernachbarn sind Studierende aus aller Welt, aus dem Iran, aus China oder aus Polen. Karolina gefällt das: "Gegenüber von mir wohnen Peruanerinnen, die sind total lieb. Man lächelt miteinander, man quatscht ein bisschen. Englisch funktioniert." Beliebte Treffpunkte für alle sind die beiden Gemeinschaftsküchen. "Wir haben schon ein paar Abende zusammengesessen, Spiele gespielt, zusammen Bier getrunken und viel gelacht." 390 Euro Warmmiete zahlt sie pro Monat für ihr Einzelzimmer mit Duschbad und WLAN - die Preise orientieren sich an denen des Studentenwerks. 

Sie selbst sei katholisch und "durchaus gläubig", erzählt Karolina. "Ich fühle mich schnell wohl in Kirchen." So findet sie es gut, dass im Wohnheim noch viele Elemente aus der ehemaligen Kirche des Architekten Reinhard Riemerschmid (1914-1996) Verwendung finden. Der mit Holz verkleidete Altar am Ende des Flures im Erdgeschoss etwa. Die an der Giebelwand hängende Jesus-Figur, die jetzt hinter Segeltuch verborgen ist. Oder die Original-Kirchenbänke mit blauen Polster in den Gemeinschaftsküchen: "Die finde ich mit am schönsten, weil es noch eine Erinnerung an die Kirche ist."

Manchmal kommen frühere Gemeindemitglieder in das Kirchen-Wohnheim. "Die lassen wir dann rein und gehen mit ihnen zusammen durch." Viele machen dann große Augen: "Dann heißt es: Hier haben wir geheiratet, oder hier wurden wir getauft - oder mein Enkel." Karolina hat dabei bislang nur positive Reaktionen erlebt: "Sie haben sich gefreut, was aus der Kirche geworden ist."

Michael Grau (epd)

Aus Kirche wird Wohnheim

Zum Projekt

Die Investoren hatten die 2012 entwidmete Kirche im Stadtteil Linden 2016 für 550.000 Euro erworben. Aufgrund der strengen Vorgaben des Denkmalschutzes entwickelten sie gemeinsam mit den Architekten Maria Pfitzner und Serge Moorkens ein "Haus-im-Haus-Konzept" mit zurückhaltenden Eingriffen in die Bausubstanz. Der zweistöckige Zimmerblock wurde in die Kirchenhülle wie eine Schachtel hineingesetzt. Alle neuen Räume sind schall- und wärmeisoliert. "Der Rest ist nur wasserdicht."

So ist von der ehemaligen evangelischen Kirche des Architekten Reinhard Riemerschmid (1914-1996) noch viel zu sehen: Der 21 Meter hohe Spitzgiebel aus Holz vermittelt mit seinen sechs Buntglasfenstern nach wie vor ein sakrales Raumgefühl. Das Christuskreuz an der Giebelwand ist noch vorhanden, wurde aber mit Tuch verhüllt. Auch der Altar steht weiter an seinem alten Ort am Ende des ehemaligen Mittelganges. Er wurde jedoch mit Parkettholz überzogen. Der jetzige Zimmerflur bildet exakt den früheren Mittelgang nach. Auf der einstigen Orgelempore befindet sich eine der Gemeinschaftsküchen - als Sitzgelegenheit dienen frühere Kirchenbänke.

Das Wohnprojekt, idyllisch gelegen direkt am Ufer der Leine, kostete insgesamt rund fünf Millionen Euro. Bei der Gestaltung der Miete orientieren sich Felsmann und Meinhof an den Sätzen des Studentenwerkes: Ein Einzelzimmer ist ab einer Warmmiete von 390 Euro zu haben. Zur Universität sind es mit dem Fahrrad nur wenige Minuten.

epd