Startseite Archiv Tagesthema vom 01. September 2016

„Majd und Leen gehören zu uns“

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Flüchtlingskinder in der Schule: Integration braucht Zeit

Majd hat seit kurzem einen neuen Freund: Christian. "Wir fahren zusammen im Bus zur Schule", erzählt der Elfjährige leise. "Ich spreche jeden Tag mit ihm", schiebt er dann etwas lauter hinterher. Seine Augen strahlen. Vor einem Jahr kam Majd mit seiner Familie aus dem syrischen Aleppo nach Deutschland. Mit seiner Mutter, seiner Schwester Farah (17) und seinem Bruder Ahmed (20) lebt er in einer Wohnung in Osnabrück. Sie hoffen, dass der Vater bald nachkommen kann.

Weil Majd schon so gut Deutsch spricht, besucht er seit den Sommerferien eine Regelklasse am Ratsgymnasium. Christian, Benjamin, Kai und die anderen aus der 6c haben ihn gut aufgenommen - ihn und Leen, ein gleichaltriges Mädchen, das ebenfalls aus Syrien stammt. "Die gehörten schon gleich am zweiten Tag richtig mit dazu", sagt Benjamin.

Was die Kinder der 6c erleben, ist ein Jahr nach Angela Merkels Satz "Wir schaffen das" noch immer eher die Ausnahme. Die meisten vor allem der älteren Kinder und Jugendlichen sind noch nicht im regulären deutschen Schulalltag angekommen, gehen je nach Bundesland noch in Vorkurse, Sprachlern- oder Willkommensklassen. Auch am Osnabrücker Ratsgymnasium sind außer Majd und Leen noch fast alle Flüchtlingskinder in der Sprachlernklasse von Bianca Mischnick.

So wie Karim (12) und Ammar (11). Die Cousins haben bis vor einem Jahr noch in einem Flüchtlingslager in der Türkei gelebt. Ihre Familien stammen aus dem irakisch-syrischen Kurdengebiet. Ammar hält es im Unterricht von Lehrerin Mischnick kaum auf seinem Stuhl. Immer wieder springt er auf, lacht, redet einfach drauflos. "Ich heiße Ammar und spiele gerne Fußball", stellt er sich in gut verständlichem Deutsch vor. Doch das Lesen und das Schreiben der ungewohnten Schrift fallen ihm noch schwer.

In der Alltagssprache finden sich die meisten Schüler relativ schnell zurecht, sagt Hermann Funk, Professor für Didaktik und Methodik am Institut für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache der Universität Jena. Der Übergang zur Bildungssprache sei aber deutlich schwerer.

"Im Unterricht in den Regelklassen müssen sie Sätze mit Nebensätzen verstehen, Ursachen und Konsequenzen ausdrücken oder Einschränkungen und Widersprüche formulieren." Die Lehrer seien aber nicht dafür ausgebildet, diese Lücke zu schließen, kritisiert der Germanist. Auch auf die Aufgabe, Kinder mit extrem unterschiedlicher Vorbildung differenziert zu unterrichten, seien sie völlig unzureichend vorbereitet.

Ivonne Brauer, die neue Klassenlehrerin von Majd und Leen, kann bei 27 Kindern in der Klasse kaum besonderes Augenmerk auf die beiden legen. Sie setzt darauf, dass die Mitschüler helfen. Und das tun sie. Leen haben sie gleich zur Klassensprecherin gewählt. Alexander meint, es sei "fair, dass sie zu uns kommen durften und jetzt mit uns gemeinsam lernen". Und Mattis fände es "cool, wenn Majd und Leen uns auch mal was von Syrien erzählen würden".

Ammar verbringt seine Freizeit meistens mit Cousin Karim. Deutsche Freunde hat er nicht, sagt er und senkt den Blick. "Die meisten unserer Kinder sind sehr schüchtern und scheu, solange sie die Sprache noch nicht gut beherrschen", sagt Mischnick.

Wenige können wie Majd und Leen schon Englisch oder haben eine gute Vorbildung. Viele kommen ohne Kenntnisse der lateinischen Schrift. Sie wissen nicht, wie man eine Mappe anlegt oder selbstständig Aufgaben löst. Auch gewaltfreie Konfliktlösung mussten die meisten erst lernen, sagt die in Ungarn ausgebildete Gymnasiallehrerin für Deutsch als Fremdsprache. "An normalen Unterricht nach Schema F ist da nicht zu denken. Am besten klappt es, wenn Eltern oder Kollegen ehrenamtlich mit einspringen und wir zu zweit unterrichten können." Auch Schülerpaten bemühen sich um die Flüchtlingskinder.

Etwa im Sport-, Musik- oder Kunstunterricht gehen sie schon nach einigen Wochen stundenweise in eine Regelklasse, sagt Mischnick: "Sie bekommen dann wenigstens einen Eindruck, wie eine Klasse hier in Deutschland funktioniert."

Es kam auch schon vor, dass ein Junge plötzlich minutenlang ins Leere starrte, nicht ansprechbar war, berichtet die Pädagogin: "Da kann ich nur abwarten. Mit Traumatisierungen kenne ich mich nicht aus." Für den Experten Funk ist das ein Alarmsignal. Lehrer müssten in diesem Bereich fortgebildet werden. Zudem bräuchten die Schulen dringend mehr Sozialpädagogen und Psychologen.

Das sieht auch Gaby Grosser so, Leiterin der Regionalen Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAZ) in Osnabrück. "Es reicht nicht, diese Kinder in den Schulen nur unterzubringen. Wir werden uns mit den Folgen von Flucht und Vertreibung noch in den nächsten zehn Jahren und wahrscheinlich auch noch in der zweiten Generation auseinandersetzen müssen."

Lehrerin Mischnick, die aus Ungarn stammt, ist trotz aller Schwierigkeiten mit ganzem Herzen dabei und macht den Kindern Mut, auf dem Schulhof auf die deutschen Mitschüler zuzugehen. "Denn eine Sache vereint alle Flüchtlingskinder", sagt sie: "Sie wollen. Sie sind begierig, Deutsch zu lernen und sich hier zu integrieren."

Martina Schwager (epd)

Partnerschaften in Syrien

Evangelische Kirchen aus Niedersachsen wollen langfristige Partnerschaften mit dem kriegszerstörten Syrien gründen. "Wir wollen die personelle Begegnung intensivieren und daneben eine ausreichende finanzielle Unterstützung aufbauen", sagte der hannoversche Landesbischof Ralf Meister beim Besuch einer Delegation evangelischer Christen aus Syrien und dem Libanon in Hannover. Im Gespräch ist unter anderem eine Schulpartnerschaft. In Syrien gibt es vier evangelische Schulen, in Niedersachsen sechs.

"Wir hoffen, dass sich auch eine Kirchengemeinde findet, die eine Partnerschaft mit einer Gemeinde dort eingeht", sagte Meister. Denkbar seien auch freiwillige Einsätze junger Erwachsener in einem Flüchtlingscamp im Libanon. Dort lebten zahlreiche Flüchtlinge aus Syrien. Freiwillige könnten dort in der Bildungsarbeit helfen und Schulen unterstützen. Meister hatte sich im Januar bei einer Reise nach Beirut über die Situation der Christen in Syrien informiert.

Bessere Sprachlehrer

Der Sprachunterricht für Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien muss nach Ansicht des Didaktik-Experten Hermann Funk dringend verbessert werden. Lehrer mit einem Bachelor- oder Masterabschluss für Deutsch als Zweitsprache oder Deutsch als Fremdsprache dürften in deutschen Schulen noch immer nicht unterrichten, kritisierte Funk in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Er ist Professor am Institut für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache der Universität Jena.

Diese gut ausgebildeten Kräfte gingen ins Ausland, um dort zu unterrichten, weil ihnen für Deutschland der Lehramtsabschluss und somit eine berufliche Perspektive fehle. "Insofern ist es völlig falsch, immer den Mangel an geeigneten Lehrkräften zu beklagen. Wir haben die Lehrkräfte. Sie dürfen nur nicht unterrichten."

Einige der derzeit in Sprachvorbereitungklassen eingesetzten Lehrkräfte leisteten in den Schulen sicher intuitiv gute Arbeit, betonte Funk. Aber sie seien insgesamt völlig unzureichend auf die Aufgabe vorbereitet, Kinder mit extrem unterschiedlichen Voraussetzungen zu unterrichten.

"Da sitzen Kinder etwa aus Tschetschenien, die bereits eine gute Schulbildung genossen haben, neben Kindern, die aufgrund des Bürgerkriegs schon jahrelang keine Schule mehr besucht haben." Die Lehrerausbildung in diesem Bereich sei mangelhaft, kritisierte er. Unterrichtsmaterial, das die Lehrkräfte dabei unterstützen würde zu differenzieren, sei für die Vorbereitungs- und Sprachlernklassen praktisch nicht vorhanden.

Ein großes Problem ist nach Ansicht des Germanisten der Übergang von der Alltagssprache in die Bildungssprache. In der Alltagssprache fänden sich die meisten Schüler relativ schnell zurecht. Im Unterricht in den Regelklassen komme es aber darauf an, etwa Sätze mit Nebensätzen zu verstehen, Ursachen und Konsequenzen auszudrücken oder Einschränkungen und Widersprüche zu formulieren.

epd