Startseite Archiv Tagesthema vom 26. April 2016

Die Katastrophe verjährt nicht

Die vollständige Darstellung von Archivmeldungen befindet sich noch im Aufbau. Schauen Sie in Kürze noch mal vorbei!

Vor 30 Jahren, am 26. April 1986, ereignete sich im Block 4 des ukrainischen Atomkraftwerkes Tschernobyl ein Unfall, der radioaktive Stoffe freisetzte, die zu etwa 70 Prozent auf dem Gebiet von Weißrussland niedergingen. Bis heute ist Tschernobyl auch für viele Deutsche noch das Symbol für die atomare Katastrophe schlechthin. Mit der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ begann in den Folgejahren zugleich ein Engagement der besonderen Art, das nach dem „Kalten Krieg“ Ost und West verband. Initiativen unter anderem in den USA, Italien, Japan und Deutschland organisierten Hilfen für die Opfer von Tschernobyl.

„Hunderte Gruppen haben in Deutschland Hunderttausende Kinder eingeladen“, sagt Lars Torsten Nolte, der die Aktion der hannoverschen Kirche organisiert. Gleich beim ersten Mal empfing die evangelische Landeskirche 1991 rund 1.100 Kinder und ihre Begleiter zu Ferienwochen abseits ihrer strahlenverseuchten Heimat. Doch 30 Jahre später sei das Engagement vielerorts zurückgegangen oder ganz eingeschlafen, sagt Nolte. „Die Aktion der Landeskirche ist mittlerweile die größte in ganz Deutschland.“ Mit rund 650 Gästen reiche sie aber nicht mehr die an Zahlen von früher heran. „Der Bedarf in Weißrussland ist weitaus höher.“

Damals kamen die Kinder noch mit dem Bus, heute per Flugzeug. Organisatorisch hat sich in all den Jahren sonst nicht viel geändert: Den Flug und die nötigen Versicherungen für jährlich insgesamt 700 Kinder in Niedersachsen bezahlt die evangelische Landeskirche. Die Ausgestaltung des Aufenthalts ist dann überwiegend Sache der Gasteltern. Zwischendurch fahren alle Kinder, die in einem der beiden Hildesheimer Kirchenkreise untergekommen sind, gemeinsam für eine Woche in den Harz oder an den Bernsteinsee – ohne Gasteltern.

Viele Gastgeber der ersten Generation sind wie Ute Dubbels längst im Rentenalter. Neue finden sich immer schwerer, sagt Nolte. Auch wenn das Reaktorunglück von Fukushima vor fünf Jahren viele wieder wachgerüttelt habe, gerate Tschernobyl aus dem Bewusstsein. „Menschen setzen sich anderswo ein. Es gibt auch eine humanitäre Konkurrenz.“ Ute Dubbels kennt noch einen ganz praktischen Grund, warum Jüngere bei der Aktion seltener mitmachen. „Oft sind beide Partner berufstätig. Dann fehlt die Zeit“ sagt sie. Dabei sei die Hilfe weiter nötig. Und Dubbels hat erlebt, dass sie wirklich etwas bewirken konnte.

Vor elf Jahren war die damals vierjährige Sonja erstmals bei ihrer Familie zu Gast. „Etwas gefiel mir nicht an ihr. Mit ihren Augen stimmte etwas nicht“, erinnert sie sich. Es stellte sich heraus, dass das Mädchen den Grünen Star hatte und zu erblinden drohte. Das Ehepaar Dubbels organisierte Hilfen, sammelte Spenden, mehrmals wurde das Kind in Deutschland operiert. „Sonja hat seitdem wenigstens 20 Prozent Sehkraft“, sagt die 74-Jährige. „Ein Mädchen vor der Blindheit bewahrt zu haben, das ist unser positivstes Erlebnis.“

„In Anbetracht des Ausmaßes der Katastrophe aufgrund des Atomunfalls war es für mich eigentlich selbstverständlich, mich zu engagieren, natürlich in der Absicht, vielleicht etwas Hilfe leisten zu können. Für die Kinder, die von der Katastrophe betroffen sind, bedeutet die jährliche, kontinuierliche Hilfe, die die Stiftung ermöglicht, einmal die Verbesserung ihrer medizinischen Versorgung und darüber hinaus auch sicherlich die Sicherheit, dass ihre Krankheit nach modernen Maßstäben behandelt wird. Darüber hinaus hat es sicher auch Ihr Vertrauen darin bestärkt, dass eine Heilung Ihrer Krankheit möglich ist. Aus vielen Begegnungen und Gesprächen haben wir erfahren, wie sehr damit Ihre Zuversicht in eine bessere Zukunft gestärkt wird.“
Professor Dr. med. Heyo Eckel, Facharzt für Radiologie, Chefarzt a.D. der Radiologie im Evangelischen Krankenhaus Göttingen-Weende
 

Nach Ansicht des Göttinger Radiologen Heyo Eckel ist wissenschaftlich schwer nachzuweisen, ob der Eindruck vieler Gasteltern zutrifft, dass die Besuche in Deutschland das Immunsystem der Kinder stärken. „Es ist auf jeden Fall ein unglaubliches Erlebnis für die Kinder, eine so enorme Gastfreundschaft zu erfahren“, betont der 81-Jährige. Das wirke sich positiv auf die Gesundheit aus. „Wir sollten das in jedem Fall fortführen“, betont Eckel, der lange Jahre die niedersächsische Landesstiftung „Kinder von Tschernobyl“ geleitet hat und immer noch dem Vorstand angehört.

Niedersachsen hat als einziges Bundesland eine solche Stiftung, die seit 1992 vor allem medizinische Hilfe in den betroffenen Regionen leistet und Ärzte fortbildet. Dass Tschernobyl immer mehr aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwindet, bemerke auch die Stiftung, sagt Eckel. „Aber das Teuflische ist, dass wir es mit langfristigen Folgen zu tun haben, die noch nicht einmal absehbar sind.“

„Diese Katastrophe kennt keine Vergangenheit, sie ist Gegenwart und Zukunft, eine Zukunft mit Ewigkeitscharakter. Diese Katastrophe wird unser Leben überdauern, sie übertrifft unsere Vorstellungen von Zeit und von Zahlen, und sie wird sich weiter entfalten in Formen, die selbst für die Wissenschaft bisher noch unbekannt sind. Kernkraft hat durch Tschernobyl und endgültig durch Fukushima seine Unschuld verloren. Und darin zerfiel die Hoffnung, dass mit der wissenschaftlichen Vernunft und Risikoabwägungen eine gute Zukunft der Menschheit und der Schöpfung garantiert sein könnte.“
Landesbischof Ralf Meister
„Die Aufenthalte der weißrussischen Kinder haben zu vielen anhaltenden persönlichen Beziehungen zwischen Familien in Deutschland und Belarus geführt. Sie haben Versöhnung gestiftet angesichts der Belastungen des deutsch-weißrussischen Verhältnisses durch den Zweiten Weltkrieg und zu neuem Vertrauen geführt. Die Kinder sind wunderbare Botschafter ihres Landes. Zum anderen helfen uns natürlich die kirchlichen Strukturen und die kirchliche Unterstützung, diese Aktion im 26. Jahr durchzuführen.“
Renate Paul, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft „Hilfe für Tschernobyl-Kinder“ in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers seit 2007

Viele Initiativen erinnern

Am 30. Jahrestag der Atom-Katastrophe von Tschernobyl hat der hannoversche Landesbischof Ralf Meister davor gewarnt, das Ereignis als Vergangenheit zu betrachten. „Es wirkt ja fort. Es ist noch nicht zu Ende“, sagte Meister in einem Gottesdienst der landeskirchlichen Arbeitsgemeinschaft „Hilfe für Tschernobyl-Kinder“ in Hannovers Marktkirche.

Noch immer würden Menschen mit Geburtsschäden geboren. „Diese Katastrophe kennt keine Vergangenheit, sie ist Gegenwart und Zukunft.“ Sie werde auch in Zukunft Formen entfalten, die selbst für die Wissenschaft bisher noch unbekannt seien.

Meister rief dazu auf, nicht fahrlässig und sorglos neue Technologien einzuführen, deren Wirkungen nicht ausreichend abzuschätzen sind. „Es gilt, dem Prinzip der Vorsicht zu folgen, damit mögliche Gefährdungen und Schädigungen von Menschen, Mitgeschöpfen und Umwelt auch dann zum Handeln verpflichten, wenn wir über diese möglichen Auswirkungen keine letzte wissenschaftliche Gewissheit haben.“

Der 26. April sei kein Jahrestag, sondern „ein Merkzeichen in der Erdgeschichte“, sagte der Bischof: „Ein Merkzeichen, das noch in Hunderttausenden Jahren von einem menschlichen Turmbau erzählt, der grandios eingestürzt ist.“ 

Am 26. April 1986 hatte eine Explosion im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl die bis dahin größte Katastrophe in der Geschichte der Kernkraftnutzung ausgelöst. Dabei wurden große Mengen radioaktiver Stoffe freigesetzt. In der Bundesrepublik war vor allem Bayern von dem radioaktiven Niederschlag betroffen, gemessen wurden dort hauptsächlich radioaktives Jod und Cäsium.

epd

Benefizveranstaltung der Landesstiftung

  • 26.04., 19.00 Uhr im Forum Melle, Melle.
  • 27.04., 18.00 Uhr in der Karlskirche, Kassel.
  • 29.04., 18.30 Uhr im Verwaltungsgebäude der Nord/LB, Hannover.
  • 28.04., 18.30 Uhr im Ludwig-Windthorst-Haus, Lingen.
  • 01.05., 18.30 Uhr, Alte Exerzierhalle am Neuen Rathaus, Celle.
  • 02.05., 19.00 Uhr im Kulturforum Gut Wienebüttel, Lüneburg.