Bei offiziellen Anlässen sieht man sie im dunklen Anzug oder auch im liturgischen Gewand – in Freizeitkleidung und mit Wanderschuhen? Das ist schon eine Seltenheit. Landesbischof Ralf Meister nutzte die „Zeit für Freiräume“, um sich als Pilger im Gebiet der Landeskirche auf den Weg zu machen. Zusammen mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil ging es im Mai auf dem Hümmlinger Pilgerweg von Lorup nach Esterwegen. Die Gedenkstätte Esterwegen erinnert an das Konzentrations- und Strafgefangenenlager, in dem während der Zeit des Nationalsozialismus überwiegend politische Häftlinge festgehalten wurden. „Darüber nachzudenken, was damals geschehen ist und wie wir Gewalt und Terror entgegentreten können, darf niemals aufhören. Wir dürfen nie wieder zulassen, dass so etwas passiert, was hier dokumentiert ist“, sagte Stephan Weil.
Gewohnte Pfade verlassen, um dann beim Wandern oder Pilgern miteinander ins Gespräch zu kommen – dieser Idee folgte in Bissendorf-Achelriede gleich eine komplette Gottesdienstgemeinde. Unter der Überschrift „Kirche geht ins Dorf“ gab es im September nicht das gewohnte Gemeindefest, sondern eine Wanderung. „Wir wollen ins Freie gehen und neue Wege beschreiten“, sagte Pastor Schnare. Mit einer kurzen Andacht und dem Segen in der Achelrieder Kirche ging es los. Durch den morgendlichen Wald führte der Weg Richtung Wersche. Für besondere Momente zwischendurch sorgten Trompetenklänge, am Ziel gab es dann einen Open-Air-Gottesdienst. In seiner Predigt nannte Pastor Schnare verschiedene Möglichkeiten, sich auf den Weg zu machen: In der Gemeinde geht es darum, die Menschen neu für ihre Kirche zu begeistern, Schülerinnen und Schüler suchen in ihrem Engagement für Fridays for future neue Wege, und auch in der Landwirtschaft braucht es frische Ideen, die eine nachhaltige Bewirtschaftung, bewusstes Konsumentenverhalten und gerechte Erzeugerpreise miteinander in Einklang bringen.
Ungewohntes ausprobieren, Routinen verlassen und Arbeit zukunftsfähig denken – diesen Wunsch haben kirchliche Mitarbeitende auch in der Verwaltung. Die Kolleginnen und Kollegen im Landeskirchenamt befassten sich gleich zu Jahresbeginn an einem Workshop-Tag mit dem Thema „Freiräume“. So entstanden Arbeitsgruppen, die sich mit Konzepten von Raumnutzung und Arbeitszeitmodellen, mit der Gestaltung von Hausandachten und gemeinschaftlichen Aktivitäten auch außerhalb der Arbeitszeit befassten. Regelmäßige Angebote von „Oasentagen“– sei es als Pilgertag im Kloster, als Ausflug oder Museumsbesuch – werden gerne genutzt und sollen auch über das Jahr 2019 hinaus stattfinden. Den Alltag unterbrechen, gemeinsam etwas am anderen Ort zu unternehmen: So manche Konferenz und manche Teambesprechung fand in diesem Jahr an der frischen Luft statt.
Unter der Überschrift „Anders arbeiten“ nahm sich der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt des Themas „Freiräume“ an. Ein gut besuchter Studientag zum Thema „New Work“ stieß auf großes Interesse. „Stell dir vor, es ist Montag – und alle wollen hin!“ Mit diesem Satz stellte Catharina Bruns ihre Gedanken für eine Arbeitswelt vor, die durch das selbstbestimmte Mitwirken aller Beteiligten geprägt ist. Dirk Osmetz berichtete von „Musterbrechern“, die erfolgreich den Wandel in ihrem Unternehmen eingeleitet und gestaltet haben.
Wo aber bleiben Freiräume im Ehrenamt? Wer sich in seiner Freizeit für die Kirche engagiert, zum Beispiel im Kirchenvorstand, übernimmt dabei nicht selten auch Verantwortung in Bauangelegenheiten oder Personalfragen. Chris Hasemann ist Lehrer und seit 2011 Vorsitzender des Kirchenvorstands der Martin-Luther-Gemeinde in Hildesheim. Langwierige Diskussionen ohne klares Ergebnis? Das wollte er in jedem Fall vermeiden und schlug vor, die Sitzungen zeitlich klar zu begrenzen und mit einem gemeinsamen Abendessen zu beschließen. Die Idee kam gut an. „Für mich ist das letztlich ein urprotestantisches Thema“, sagt Hasemann, „sich zu fragen: Wovon mache ich mich frei? Wovon bin ich befreit? Und auch: Was mache ich mit dieser Freiheit?“
Das Stichwort „Freiraum“ brachte manche Kirchengemeinde noch auf ganz andere Ideen: In Immensen und Hannover-Ricklingen räumte man die Kirchenbänke aus – wenn auch nur probeweise, für ein paar Wochen. Der Freiraum Kirche wird anders erfahrbar, wenn plötzlich Platz ist, um sich zu bewegen oder die Sitzordnung im Gottesdienst zu verändern.
Auch das bewusste Erleben von Stille ist eine besondere Erfahrung. Die Kirchengemeinde St. Petri in Buxtehude lud im Februar dazu ein. Eine ganze Woche lang stand die Kirche offen: Täglich von 7 Uhr bis 22.30 Uhr gab es die Möglichkeit zur Einkehr, auch zum Frühstück oder Abendbrot in der Kirche. Tägliche Andachten und ein Gesprächsangebot ergänzten das Angebot von Kirche als Freiraum.
