Gefüllte Marktkirche in Hannover

Bild: Jens Schulze

Erweckt und industrialisiert

Das kirchliche Leben in Niedersachsen ab dem 17. Jahrhundert

Gerhard Ulhorn
Gerhard Ulhorn, Oberkonsistorialrat und Abt zu Loccum, Bild: Landeskirchliches Archiv

Nach den Wirren der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges galten im niedersächsischen Protestantismus des 17. Jahrhunderts praktizierte Frömmigkeit, Toleranz und Friedensgesinnung als die zentralen christlichen Tugenden. Sie wurden in der Erbauungsliteratur besonders gepflegt, zu deren Hauptvertretern der Celler Generalsuperintendent Johann Arndt (1555-1621) gehörte. Auch die Kirchenmusik blühte auf, viele heute noch bekannte Kirchenlieder entstanden in dieser Zeit, z. B. „Macht hoch die Tür“, „Dir, dir, o Höchster, will ich singen“ und viele andere.

Im 18. Jahrhundert versuchten viele evangelische Pastoren, die christliche Lehre mit den Prinzipien der Aufklärung zu verbinden. Sie warben für ein vernünftiges, praktisch ausgerichtetes Christentum. Rationalismus und Vernunftsdenken wandten sich gegen den „Aberglauben“ und stärkten die Toleranz unter den Religionen und Konfessionen, ließen aber auch die emotionale und soziale Seite des kirchlichen Lebens verblassen. Traditionelle Gottesdienstformen und Spiritualität gingen verloren, das Gemeindeleben verlor seine Bedeutung.

Linerhaus in Altencelle: Ein Rettungshaus, gegründet 1843
Linerhaus in Altencelle: Ein Rettungshaus, gegründet 1843. Bild: Landeskirchliches Archiv

Dem trat in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Erweckungsbewegung entgegen. Sie forderte, den Eigenwert der Religion wieder mehr zu achten und Gottes Offenbarung in der Bibel und den Menschen stärker zu respektieren. Man griff die biblischen Aufgaben von Mission und Diakonie neu auf: Es wurden Missionswerke für das In- und Ausland gegründet, ebenso Krankenhäuser, Alten-, Kinder- und Behindertenheime. Viele von ihnen bestehen bis heute, z. B. die Hermannsburger Mission, das Henriettenstift Hannover oder die die Käsdorfer Anstalten. Mit den Diakonischen Schwestern, den „Diakonissen“, entstand für evangelische Frauen ein ganz neuer Berufs- und Lebensweg.

In den gesellschaftlichen Umwälzungen der Industrialisierung zum Ende des 19. Jahrhunderts sah sich auch die Kirche vor neue Aufgaben gestellt: In den rasch wachsenden Industriegebieten wurden zahlreiche neue Kirchen gebaut, die sozialen Aufgaben der Kirchengemeinden gestärkt, Diakone und Gemeindehelfer zur Unterstützung der Pastoren ausgebildet. Erstmals konnte auch für alle Teile der Landeskirche eine gemeinsames Gesangbuch und eine einheitliche Gottesdienstordnung (Liturgie) eingeführt werden.

Der hannoversche Oberkonsistorialrat Gerhard Uhlhorn (1826-1901) war eine treibende Kraft dieser Neuorientierung. Als Abt des Klosters Loccum war er praktisch das geistliche Oberhaupt der Landeskirche. Viele seiner Entscheidungen prägen die Landeskirche bis heute.