„Eltern sind zum Erziehen da, Großeltern zum Verziehen“?

„Opa, du bist mein Freund.“ Julian schaut nicht einmal auf, als er diese Worte ausspricht, die seinem Großvater Tränen der Freude über die Wange laufen lassen. Die beiden – knapp sechs Lebensjahrzehnte trennen sie – hocken auf dem Fußboden und schnitzen einen Wanderstab. Zuhause hätte Julian das scharfe Offiziersmesser nicht benutzen, ja nicht einmal im zugeklappten Zustand aus der Schublade nehmen dürfen. Bei Opa ist das möglich. Das verbindet.
Stefanie wurde im vergangenen Jahr konfirmiert. Aber über ihre Haarfarbe darf sie noch lange nicht entscheiden. Das schrille Pink, das sie sich zwischen Weihnachten und Neujahr hat färben lassen, haben Mutter und Vater noch nicht gesehen; Stefanie verbringt die Weihnachtsferien bei ihrer Oma in Hamburg. Und die fand die Farbe zwar auch nicht okay („die macht dich blass“), sie hat dennoch die letzten 15 Euro für den Friseur spendiert. „Deine Mama hat in den 80-er Jahren auch nicht anders ausgesehen“, hat Oma ihr noch verraten.
„Eltern sind zum Erziehen da, Großeltern zum Verziehen“, hieß es einst. Das hörte sich an wie eine versteckte Warnung, der älteren Generation bloß nicht zu viel Einfluss auf die Kinder einzuräumen. Doch wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass zum Wohlergehen und Gelingen offenbar beides gehört – die klaren Vorgaben der Eltern ebenso wie das großzügige Interpretieren der Großeltern. Letztlich profitieren alle drei Generationen davon, wie verschiedene Studien zeigen. Dass Stefanies Oma von der „ausgeflippten“ Zeit ihrer Tochter erzählt, rückt das Bild zurecht, das sich der Teenager von seiner Mutter gemacht hat.
Corinna Onnen, Soziologin am Institut für Sozialwissenschaften und Philosophie an der Universität Vechta, sagt, „die Alten relativieren die Beziehungen innerhalb der Familie“. Wenn Oma und Opa die Geschichten der eigenen Familie preisgeben, zeigten sie dem Kind, dass auch die Eltern nicht fehlerlos seien und ermöglichten so dem Enkelkind eine neue Sicht auf Mutter und Vater. Und wenn Julians Opa sich über das Messerverbot seiner Schwiegertochter hinwegsetzt, dann gibt er seinem Enkel nicht nur die Gelegenheit, sich um Umgang mit gefährlichem Gerät – unter Aufsicht – zu üben. Der Steppke lernt auch, dass Mutters Ängste und Großvaters Umsicht die beiden Seiten ein und derselben Medaille sind, nämlich der Liebe zum ihm.