In der evangelischen Kirche vollzieht sich ein bedeutsamer Wandel: die Abkehr von defizitären Vorstellungen vom älteren Menschen. Immer mehr Initiativen bilden sich, in denen Menschen jenseits der Pensionsgrenze neue Möglichkeiten der eigenen Gestaltung ihres Lebens auch in der Kirche reklamieren. Rein betreuende und „betüddelnde“ Formen in der Seniorenarbeit stehen vor dem Aus.
Noch nie hat es eine so lebendige, interessierte und aktive Älterengeneration wie heute gegeben. Für die Kirche ist dies ein großes Geschenk.
Und was es da nun nicht alles gibt: Trommeln, Radfahren, sogar: Kraftsport für Frauen – Theaterprojekte. In Gospelchören finden sich Junge und Ältere begeistert zusammen – singend.
Evangelische Einrichtungen bauen neue integrative Wohnprojekte auf. Immer weiter um sich greifen Modellprojekte des intergenerationellen Lernens „IGELE“, in denen Alte und Junge gemeinsam miteinander Projekte anschieben. Andere Projekte, wie z. B. das Vorhaben „Kulturführerschein“ in Düsseldorf, bieten spezifische Qualifizierungsmöglichkeiten für Senioren und Seniorinnen im Bereich von Kultur, Oper und Kunst. Ein gemeinsames Theatervorhaben von Hauptschule und Kirche in Nürnberg mit dem Titel „Generationen Playback“ entwickelt Projekte, in denen Senioren aus Kirchengemeinden Schülern Geschichten aus ihrem Leben erzählen, die die Jugendlichen dann in Theaterszenen nachspielen und schließlich vor einem Publikum aufführen.
Unterstützt wird dieser Wandel durch Seniorentrainer. An insgesamt 35 Standorten in Deutschland wurden viele hundert von ihnen ausgebildet, um Kompetenz und Erfahrungswissen an Menschen jeden Alters weiterzugeben. Sie entwickeln Projekte, unterstützen neue Projektvorhaben und tauschen sich mit Menschen aus, die neue Herausforderungen suchen. Sie unterstützen auch gemeinnützige Initiativen und Organisationen. Und viele Landeskirchen entwickeln neue Strukturen.
Das Evangelische Zentrum für innovative Seniorenarbeit in der Evangelischen Kirche im Rheinland bietet ein Forum für interdisziplinäre Zusammenarbeit im Austausch von Akteuren in der Seniorenarbeit mit dem Ziel, selbstorganisiertes Lernen, Selbstorganisation und Selbsthilfe zu ermöglichen. Kirchengemeinden, die sich diesen neuen Gruppierungen und Themen öffnen wollen, finden hier breite Unterstützung. Was hier geschieht, wird noch immer weiter um sich greifen. Das immer längere Leben und insbesondere die Herausbildung einer neuen aktiven Lebensphase zwischen sechzig und achtzig Jahren, in der man noch alles Mögliche unternehmen kann und sich noch lange nicht alt fühlt, verändert auch die kirchliche Arbeit. Denn die Kirche ist zutiefst auf die Mitwirkung und breite Unterstützung der Älteren angewiesen. Viele Aktivitäten in der Kirche gäbe es gar nicht, wenn sich nicht Ältere engagierten. Für sie ist die Kirche zudem der wichtigste Engagementbereich überhaupt und bietet hervorragende Plattformen, um sich auch sonst in der Gesellschaft bürgerschaftlich einzusetzen.
Dieses Engagement der Älteren hat sich in den letzten Jahren auch noch erheblich ausgeweitet. Noch nie hat es eine so lebendige, interessierte und aktive Älterengeneration wie heute gegeben. Für die Kirche ist dies ein großes Geschenk.
Die EKD hat diese Entwicklung in einer Denkschrift mit dem schönen Titel „Im Alter neu werden können“ vorangetrieben. Sie weist darauf hin, dass es auch im Alter viele Möglichkeiten gibt, geistlich, aber auch ganz real neu werden zu können. „In Gottes Gegenwart können Menschen trotz allem, was war und was ist, immer wieder neu werden. Diese Perspektive des Neuanfangs drängt quasi nach außen in die Gestaltung der Lebensverhältnisse. Weil auch im Alter stets Neues möglich ist, hat das Alter schöpferische Potenziale, die allen zugutekommen können. Die mögliche Entfaltung dieser kreativen Potenziale sollte durch die Lebensbedingungen der Älteren unterstützt werden.“ Und auch der Sechste Altenbericht der Bundesregierung betont, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften ältere Menschen nicht mehr als vornehmlich unterstützungsbedürftig ansehen sollte, sondern den vielfältigen Lebensstilen und Erwartungen älterer Menschen Rechnung tragen und auf Kompetenz und die Entwicklung ihrer Potenziale setzen sollten.
Es ist unverständlich, wieso es nach wie vor Altersgrenzen für ehrenamtliche Betätigung in kirchlichen oder diakonischen Gremien gibt.
Man kann zudem belegen, dass sich die spirituellen Bedürfnisse der Älteren geändert haben. Noch bis in das höhere Alter hinein spielt die Nähe des Todes keine Hauptrolle. Spirituelle Erfahrungen werden vielmehr mit positiven Erlebnissen im Leben verbunden. Die Vorstellung, noch etwas Neues beginnen zu können, verbindet sich mit dem Glauben an einen ermutigenden und unterstützenden Gott, mit dem man sich gemeinsam auf den Weg machen kann. Alt ist man in dieser Selbstwahrnehmung der Älteren ohnehin erst etwa um die achtzig, erst dann, wenn man sich als unterstützungsbedürftig empfindet. Vorher aber soll noch viel passieren.
Will man diese neuen älteren Menschen gewinnen, so wird es sich nahelegen, sie überhaupt nicht mehr als „die Älteren“ oder als „die Senioren“ anzusprechen, sondern ein allgemein interessantes Angebot für Erwachsene zu entwickeln. Das Lebensalter sagt allein immer weniger über einen Menschen aus und die Sensibilität für Altersdiskriminierungen steigt. So ist es vollkommen unverständlich, wieso es nach wie vor Altersgrenzen um die 65 oder 67 Jahre für ehrenamtliche Betätigung in kirchlichen oder diakonischen Gremien gibt. Fitness und Leistungsfähigkeit sind keine Frage des Lebensalters.
Ältere sind „Experten für das Leben“. Sie leisten viel für die Gesellschaft und viele sind bereit, noch mehr zu tun, gerade in der Kirche. Es kommt darauf an, sie bei ihren Interessen anzusprechen und sie mit ihren Fähigkeiten einzubeziehen. Sie werden die Kirche verändern – zum Positiven! Und ganz im Gegensatz zu vielen Schrumpfungsprogonosen kann man sagen: Die Kirche wird mit den Älteren wachsen!
Von Prof. Dr. Gerhard Wegner ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland; er war Mitglied der Regierungskommission für den „6. Altenbericht“ (2010) (aus: Evangelische Zeitung)