Startseite Archiv Nachricht vom 27. November 2019

Diakonie will Leid und Tod in Kinderkurheimen aufarbeiten

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Hannover. Die Diakonie in Niedersachsen räumt der Aufarbeitung des Leids der sogenannten Verschickungskinder zwischen Ende der 1940er bis in die 1980er Jahre eine hohe Priorität ein. "Die Vorfälle sollen transparent aufgearbeitet werden", sagte Vorstandssprecher Hans-Joachim Lenke am Mittwochabend vor der in Hannover tagenden Landessynode. Besonders erschüttert habe den Verband die Situation in Bad Salzdetfurth bei Hildesheim. Dort seien 1969 drei Kinder gestorben. Ein knapp Vierjähriger soll von anderen Kindern totgeschlagen worden sein, zwei weitere Kinder seien - vermutlich durch Zwangsmaßnahmen beim Essen - an ihrem Erbrochenen erstickt.

Die "Stiftung Kinderheilanstalt Bad Salzdetfurth" war von 1962 bis zu ihrer Auflösung 1970 Mitglied im "Gesamtausschuss von Innerer Mission und Hilfswerk der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers". Insgesamt habe die Diakonie bisher sechs Heime in kirchlicher Trägerschaft in der damaligern Zeit in Niedersachsen ausfindig machen können, sagte Lenke. Zur hannoverschen Landeskirche gehörte außerdem das Flinthörnhaus auf Langeoog und zur braunschweigischen Landeskirche das Wilhelm-Augusta-Heim und das Kinderkrankenhaus Seehospiz auf Norderney. Die oldenburgische Kirche betrieb das Kinderkurheim Lindenhof in Hude und ein Kinderheim vom Blockhaus Ahlhorn, die Evangelisch-reformierte Kirche das "Blinkfüer" auf Borkum.

Millionen Kinder vom zweiten Lebensjahr an wurden in den vier Jahrzehnten in Kinderkurheime verschickt. Die Kosten trugen die Krankenkassen. Häufig spielten ein zu geringes Gewicht oder Erkrankungen wie Asthma eine Rolle, sagte Lenke. Oft genug sei der Erfolg der Kur an der Gewichtszunahme gemessen worden. Viele Kinder kehrten jedoch traumatisiert zurück. Sie berichteten von Essenszwang und gewalttätiger Fütterung durch das Pflegepersonal bis hin zum Erbrechen sowie von harten Strafen wie Schlafentzug oder Ans-Bett-Fesseln.

Aus dem Jugendbericht der Bundesregierung von 1965 gehe hervor, dass es zu dem Zeitpunkt 839 Heime für rund 56.000 Kinder gegeben habe, sagte Lenke. Davon waren der Statistik zufolge mit 52,8 Prozent mehr als die Hälfte privat-gewerbliche Träger. 32,4 Prozent wurden von Trägern der freien Jugendhilfe wie Diakonie, Caritas und Arbeiterwohlfahrt betrieben und 14,8 Prozent gehörten zur öffentlichen Hand. 

In der vergangenen Woche war der Fall einer heute 55-jährigen Frau bekanntgeworden, die als Vierjährige in Bad Salzdetfurth misshandelt worden war. Am vergangenen Wochenende kamen erstmals Betroffene zu einer bundesweiten Konferenz auf Sylt zu einem Austausch zusammen. Die Diakonie in Niedersachsen habe als erste Maßnahme eine telefonische Ansprechstelle zur Aufarbeitung eingerichtet, sagte Lenke. Er plädierte für eine bundesweite Aufarbeitung. Das Telefon ist werktags erreichbar unter 0511/3604-444.

epd Landesdienst Niedersachsen-Bremen