Historiker schildern auch Fälle körperlicher und seelischer Gewalt
Hildesheim (epd). Niedersachsens größte Einrichtung für behinderte Menschen, die Diakonie Himmelsthür in Hildesheim, hat erstmals ihre 130-jährige Geschichte wissenschaftlich aufarbeiten lassen. In dem Buch würden auch Fälle von körperlicher und seelischer Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der damaligen "Fürsorgeerziehung" geschildert, sagte Autorin Ulrike Winkler am Dienstag in Hildesheim.
"Es gab furchtbare Dinge, für die wir uns nur entschuldigen können", betonte der heutige Direktor Ulrich Stoebe. Gleichzeitig hätten Menschen mit unglaublichem Einsatz großartige Arbeit geleistet. "Die Diakonie muss sich ihrer ganzen Geschichte stellen."
In dem Buch "Vom Frauenasyl zur Arbeit für Menschen mit geistiger Behinderung" lassen die Politikwissenschaftlerin Winkler und der Bielefelder Historiker Hans-Walter Schmuhl Betroffene zu Wort kommen. In einem Interview schildere ein Mann, wie er als Kind von einer Erzieherin und dessen Lebensgefährten sexuell missbraucht wurde. Teils seien auch kleine Kinder in der Obhut ehemaliger Bewohner gelassen worden, die selbst wahrscheinlich traumatisiert waren, sagte Schmuhl.
Er und Winkler hatten bereits 2009 im Auftrag des Diakonischen Werks niedersächsische Heime untersucht. Bis in die 1970er Jahre hinein waren viele Heimkinder physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt - bundesweit waren es rund 800.000, in Niedersachsen rund 50.000. Landesweit wurden drei Viertel der Heime von kirchlichen Trägern geführt. Seit 2012 können ehemalige Heimkinder Entschädigungen aus einem bundesweiten Fonds beantragen.
Zu den Besonderheiten der Geschichte von Himmelsthür gehöre auch, dass die Hildesheimer Einrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg rund 15.000 junge Frauen aufnahm, die aus der DDR fliehen konnten, sagte Winkler. Die Frauen galten als unter 21-Jährige nach westdeutschem Recht als minderjährig und sollten in der Einrichtung in einer Art Schnellverfahren an die christlichen Werte im Westen gewöhnt werden. Dies habe zu "massivem Konfliktpotenzial geführt".
Die Diakonie Himmelsthür wurde 1884 in einem gleichnamigen Stadtteil von Hildesheim als Asyl für Frauen gegründet, die zum Beispiel aus dem Strafvollzug oder der Psychiatrie entlassen wurden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam die staatliche Fürsorgeerziehung und die zwangsweise Verwahrung von Jugendlichen hinzu.
Im März 1945 wurde die Häuser durch einen Bombenangriff fast vollständig zerstört, jedoch mit Altenhilfe, Behindertenhilfe und der Betreuung der jungen Frauen aus der DDR wieder aufgebaut. Heute betreut die Einrichtung an landesweit 22 Standorten rund 2.000 geistig und mehrfach behinderte Menschen und beschäftigt 2.500 Mitarbeiter.
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