Von Michael Grau (epd)
Hannover (epd). "Herr McAllister, wo speise ich morgen?" Diese Frage an den niedersächsischen Ministerpräsidenten hat Christiane Klassen (49) in großen schwarzen Lettern auf ein Plakat geschrieben, und hält es jedem Neugierigen in die Kamera. Aus der Nähe von Bad Pyrmont ist sie an diesem Sonnabend nach Hannover gekommen. Dort haben Diakonie und Caritas in der Innenstadt eine rund 400 Meter lange "Solidaritätstafel" aufgebaut, um gegen zunehmende Armut zu protestieren.
Diakoniedirektor Christoph Künkel aus Hannover findet deutliche Worte, um die Armut anzuprangern. "Armut nimmt nicht ab, sie nimmt zu in unserem Land", sagt er mit schneidender Stimme ins Mikrofon. Doch zugleich steige die Zahl der Millionäre. "Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, das kann so nicht weitergehen." Niedersachsens Sozialministerin Aygül Özkan (CDU) stimmt zu: "Es kann nicht sein, dass wir in einem der reichsten Länder so viele Menschen haben, die in Armut leben."
Von Armut kann auch Christiane Klassen viel erzählen, und es sprudelt nur so aus ihr heraus. Für schlechte Bezahlung arbeite sie in der Pflege, nachdem sie einige Zeit arbeitslos war. "1.026 Euro brutto für 180 Stunden im Monat." Nach Abzug aller Nebenkosten sei das ein Stundenlohn von 4,50 Euro. Das reiche hinten und vorne nicht, zumal sie zwei Kinder habe. Schikaniert fühlt sie sich von der Arbeitsagentur und den Behörden. Politikern gegenüber ist sie misstrauisch: "Das sind Sonntagsreden, kein Zusammenhang mit der Realität."
Wie sie haben bei strahlendem Sonnenschein rund 1.000 Menschen an etwa 200 Bierzelttischen unter den Bäumen der Georgstraße Platz genommen und essen kostenlos einen Teller mit einem chinesischen Nudelgericht. Unter den Gästen sind zahlreiche Passanten mit Einkaufstüten, aber auch viele Erwerbslose, die am Tisch ihre persönliche Geschichte zwischen Jobverlust, Arbeitsagentur und Hartz IV erzählen.
Karl-Heinz Wulfhorst (61) aus Hannover findet die Idee mit der Solidaritätstafel "absolut klasse". Doch es sei beschämend, dass sich Politiker dafür feiern ließen, obwohl doch die vielen Ehrenamtlichen die ganze Arbeit gemacht hätten. Als Kraftfahrer habe er gearbeitet, doch jetzt sei er in Hartz IV, erzählt er und löffelt mit tätowiertem Oberarm seine China-Pfanne. 589 Euro hat er im Monat, davon gehen 303 Euro für Miete, Heizung und Strom ab. "Man kann sich nichts außer der Reihe leisten. Kino oder Zoo ist nicht drin."
Ein paar Meter weiter hat eine sonnengebräunte ältere Dame, die ihren Namen nicht sagen möchte, mit strahlend weißer Bluse Platz genommen. "Super" findet sie die Idee der Solidaritätstafel. Deshalb hat sie hier für die Bahnhofsmission gespendet. Man wisse ja beim Spenden sonst nie so richtig, ob das Geld auch ankomme. Aber hier habe sie ein gutes Gefühl. Von Armut sei sie zum Glück selbst nicht betroffen. Was man gegen Armut tun könne? Sie zuckt die Schultern. "Da ist man irgendwie machtlos."
Auf der Bühne fordert Caritasdirektor Hans-Jürgen Marcus aus Hildesheim die Bürger und Politiker unterdessen zu mehr Respekt vor armen Menschen auf. "Wir haben in Deutschland eine lange Tradition respektlosen Redens über Armut", kritisiert er. Da sei von "Drückebergern", von einer "sozialen Hängematte" oder vom "kollektiven Freizeitpark" die Rede. "So kann keine vernünftige Debatte in Gang kommen."