Seit gut zehn Jahren überrascht der dänische Regisseur Lars von Trier immer wieder die Filmwelt mit Werken, die sich auch mit religiösen Fragestellungen beschäftigen und in der theologischen Diskussion zahlreiche Debatten ausgelöst haben: „Breaking the waves“ (1995) oder „DOGVILLE“ (2003). Nun kommt sein jüngster Film ins Kino. Es ist ein in den Wäldern nahe Köln gedrehten Horrorthriller mit dem Titel „Antichrist“. Ein kulturgeschichtlich wie theologischer höchst belegter und ambivalenter Begriff: Der Gegenspieler Christi, der vor dessen Wiederkunft auf der Erde die Menschen verführt, um das wahre Leben bringt und falsche Lehren verbreitet. Und als ob dieser aus der frühchristlichen Apokalyptik stammende Bezeichnung, mit dem sowohl Luther als auch der Papst sich gegenseitig beschimpften, nicht schon ausreichend Zündstoff bieten würde, ist auf dem Schriftzug des Filmplakates der letzte Buchstabe als Frauenzeichen gestaltet.
Der Prolog des Films ist von ergreifender Tragik: Während seine Eltern im Nebenzimmer leidenschaftlich Sex haben, klettert ein kleiner Junge aus seinem Gitterbett, erklimmt einen Tisch und stürzt durch das offene Fenster der Etagenwohnung auf die Straße in den Tod.
Die Mutter (Charlotte Gainsbourg) stürzt nach dem Tod in eine Trauer, die sie nur mit Medikamenten betäuben kann, ihr Mann (Willem Dafoe) will sie daraus befreien. Er ist Psychotherapeut und Analytiker und überzeugt, sie mit seinen Methoden heilen zu können. So souverän und professionell wirkt er, dass man leicht vergisst, dass er auch trauernder Vater ist, der sein einziges Kind verloren hat. Sie lässt sich auf seinen Vorschlag ein, an den Ort ihrer tiefsten Angst zu fahren. Es ist eine entlegene Hütte mitten im Wald, getauft auf den sprechenden Namen „Eden“, in die sich die Frau im Sommer davor mit ihrem Sohn zurückgezogen hatte, um an ihrer Doktorarbeit zu schreiben.
Und nun kommt die zweite Konstante der Natur, der Schöpfung und Geschöpflichkeit in die Geschichte dazu. Für die Frau ist der Wald und „Eden“ auf einmal gefährlich, ein bedrohlicher Ort des wild wuchernden Chaos. Mit ihren Augen sehen wir Angstträume, die davon erzählen, wie grausam die Natur ist und zugleich: wie leidend. Noch versucht der Mann und Therapeut mit Struktur und Vernunft gegen die Natur vorzugehen, doch zusehends eskaliert die Situation. Kurz bevor die Ereignisse so richtig aus dem Ruder laufen, findet er auf dem Dachboden die Materialsammlung seiner Frau für ihre nie fertig gestellte Doktorarbeit zu den Hexenverbrennungen und Gynoziden des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Er liest ihre Aufzeichnungen, irgendwann enden sie in Krakeleien. Die Grausamkeit, die an den Frauen verübt worden ist, ließ sie verzweifeln. Und zugleich liest er, wie sie wohl selbst zuweilen glaubte, dass Menschen, vor allem aber die Frauen, grundsätzlich böse seien, gar: Erfüllungsgehilfinnen Satans. Wenn die Natur die Kirche Satans ist, was sind dann die Menschen darin? So fragt sie und erhält keine Antwort.
Von Trier liebt es explizit, bei Darstellungen von Sex und von Gewalt. Blut fließt reichlich, Genitalien werden verstümmelt, ein Bein durchbohrt und was der Grausamkeiten mehr sind. Die Frage nach dem Bösen in der Welt, in der Natur – der Tiere, des Menschen, nach dem Umgang mit der gefallenen Schöpfung und ihrer möglichen Heilung - bleibt als grundsätzliche Anfrage an die Theologie heute. An eine Kirche, die in Zeiten von Klimakrise die Bewahrung der Schöpfung als Thema stark macht, die fragt nach der Rolle und dem Ort des Menschen in dieser so bedrohten wie bedrohlichen Schöpfung Welt.
Je genauer man Antichrist aber ansieht, desto problematischer erscheinen alle Festlegungen. Von Trier hat seinen Film mit so viel Material vollgestopft, mit so viel Symbolik aufgeladen und mit so vielen Anknüpfungspunkten für mögliche Deutungen versehen, dass er sich klaren Zuschreibungen entzieht. Man kann es auch als zynischen Kommentar zur Psychoanalyse verstehen, wenn man von Triers eigene Aussagen als biographischen Zugang wählt, dass er mit dem Drehen dieses Filmes seine schwere Depression überwunden habe.
Einfachen Rationalisierungen verstellt Lars von Triers Film dann aber den Weg: Dafür berührt die Grausamkeit zu sehr, mit der sich hier zwei Menschen begegnen und zerstören. Das Chaos regiert – mit schönsten Bildern. Kein Dialog schimmert am Horizont, keine Hoffnung. Und das ist wahrhaftig anti-christlich.
Dr. Julia Helmke
Beauftragte für Kunst und Kultur / Haus kirchlicher Dienste, Hannover
10.9.2009