Spiekeroog (epd). Die Inselbewohner wissen: "Vor dem Wasser kann man nicht weglaufen". Wenn der Wind über der Nordsee tagelang mit Orkanstärke aus Nordwesten weht, kann das Wasser bei Ebbe nicht mehr abfließen. Dann steigt mit jeder neuen Flut der Meeresspiegel um etliche Meter. Auf der ostfriesischen Insel Spiekeroog vertrauen die Menschen seit Jahrhunderten bei Sturmflut auf ihre Kirche: Denn die hat ein Dach, das sich bei Sturmflut wie ein Floß vom Gebäude lösen soll und so Rettung verspricht.
Bis ins 18. Jahrhundert wurden solche "Drifthuusen" gebaut. Bei steigendem Wasser werden die Verbindungsbolzen zum Rest des Hauses entfernt und der Wind treibt das schwimmfähige Dach mit Mensch und Vieh zum Festland. Doch der evangelische Inselpastor Joachim Breithaupt ist skeptisch, ob die Konstruktion aus dem Jahre 1696 funktioniert hätte. Seine Kirche ist die älteste auf den sieben ostfriesischen Inseln. "Seitdem ist das Wasser noch nie so hoch gestiegen, dass das Dach hätte schwimmen müssen", sagt er.
In den vergangenen 300 Jahren haben die Insulaner ihre Kirche immer weiter mit Malereien, Schnitzereien und Strandgut liebevoll ausgeschmückt. Ursprünglich war das Gebäude nur ein Schuppen, der erst zur Kirche umgebaut wurde, erläutert Breithaupt. "Ende des 17.
Jahrhunderts lebten rund 70 Menschen auf der Insel vom Fischfang und etwas Landwirtschaft. Mehr Leute passen auch nicht hinein." Die Spiekerooger hatten gerade mal genug zum Leben. Nur hin und wieder trieb das Meer kleine Reichtümer von gestrandeten Schiffen an den Strand.
Auf diesem Wege soll der Legende nach auch eine kleine katholische Pietá in die Inselkirche gelangt sein. Die Figur zeigt Maria mit dem toten Jesus nach der Kreuzigung. Wahrscheinlich stammt die Schnitzerei von einem Kriegsschiff, das mit der spanischen Armada 1588 England erobern wollte und stattdessen vor Spiekeroog strandete. Im Jahre 1869 entdeckten Forscher in der Kirche ein vergessenes Grab mit einem männlichen Skelett, Münzen und einen spanischen Stoßdegen, der senkrecht in der Erde steckte.
Heute werden in der alten Inselkirche nur von November bis Februar Gottesdienste gefeiert, wenn weniger Touristen kommen und die Spiekerooger endlich unter sich sind. Zwar bringen die Gäste ihr Geld auf die Insel, doch lassen sie den Einheimischen kaum noch Privatsphäre.
Trotzdem fühlen die sich Gäste auf der Insel so wohl, dass einige hier sogar heiraten wollen. Doch das geht schon aus Platzgründen nur in der großen Neuen Kirche von 1961. Das bisher prominenteste Paar feierte hier 1982 seine Hochzeit: Der damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident und spätere Bundespräsident Johannes Rau (SPD) und seine Frau Christina.
Jörg Nielsen
Internet: Inselkirche Spiekeroog
(epd Niedersachsen-Bremen/b2390/23.08.07)
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