Die Kirche der Reformation sollte selbstbewußter werden
Die Leiterin der EKD-Delegation zum Abschluß der ÖRK-Vollversammlung
Vom 14. bis 23. Februar fand im südbrasilianischen Porto Alegre die 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) statt. Er umfaßt 348 evangelische, orthodoxe und anglikanische Kirchen mit rund 562 Millionen Mitgliedern.Über 4.000 kirchliche Repräsentanten und Mitarbeiter beschäftigten sich mit dem als Gebet formulierten Thema „In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt“. Die Leitung der 20köpfigen deutschen Delegation hatte die hannoversche Landesbischof Margot Käßmann. Im folgenden ihr Bericht.
„Das war wie ein Weltkirchentag“, sagte eine Teilnehmerin begeistert. Und sie hatte damit durchaus recht. Christinnen und Christen rund um den Globus kamen zusammen mit all ihren kulturellen, nationalen, konfessionellen Unterschieden. Bei vielen Teilnehmenden aus Deutschland etwa gab es eine große Zufriedenheit. Vor allem in den Bibelarbeiten, aber auch bei den Mutirao-Veranstaltungen (kleine Workshops zu einer Fülle von Themen), sowohl bei den ökumenischen Gesprächen als auch auf dem „Markt der Möglichkeiten“ war Gelegenheit zu einer Vielzahl von Begegnungen und Gesprächen. „Brot für die Welt“ etwa und der Evangelische Entwicklungsdienst konnten sich darstellen, es gab eine Veranstaltung zur Pfingstbewegung in aller Welt und eine zu Sexualität, HIV und Aids. „Das Wichtigste passiert nebenbei“, sagte eine Teilnehmerin.
Auch das Gebet, das geistliche Leben hat eine wesentlich größere Rolle gespielt als bei früheren Versammlungen. Es gab eine erfahrbare Spiritualität. Das Andachtsleben war zwar deutlich reglementiert: ökumenische Liturgien morgens, konfessionelle abends und sonntags Besuch des Gottesdienstes der eigenen Konfession, hat aber dennoch viele im guten Sinne bewegt.
Evangelikale meldeten sich zu Wort
Interessant war, daß die Pfingstkirchen, die Evangelikalen sich – meines Wissens erstmals offiziell im Rahmen des ÖRK – kräftig zum Thema Einheit zu Wort meldeten. Dr. Norberto Saracco von der Lausanner Bewegung für Weltevangelisation legte ein engagiertes Zeugnis für mehr Gemeinschaft ab. Er forderte einerseits gegenseitige Anerkennung ohne Vorbehalte, die Pfingstbewegung solle nicht länger als Drohung angesehen werden. Dabei gab es durchaus selbstkritische Töne. Gleichzeitig fragte er, ob nicht genügend Ozeane von Tinte und Tonnen von Papier zum Thema Einheit der Kirchen verwendet worden seien. Sei es nicht an der Zeit, schlicht den Heiligen Geist wirken zu lassen? So sehr auch Fragen an diese Position möglich sind, fand ich beachtlich, daß sich eine Stimme aus dieser Bewegung, die in Brasilien inzwischen 30 Prozent der Christinnen und Christen ausmacht, so klar äußerte.
Eine offene Debatte war kaum möglich
Allerdings: Unter den mehr als 4.000 Teilnehmenden befanden sich eben auch knapp 700 Delegierte aus 348 Mitgliedskirchen. Viele von ihnen fragten sich nach ihrer Rolle. Im Plenum war eine offene Debatte durch die äußerst engen Regeln des Konsensverfahrens kaum möglich. „Das war mehr Choreographie als Theologie“, sagte der russisch-orthodoxe Bischof Hilarion. Ich stimme in vielem nicht mit ihm überein, aber an dieser Stelle hat er die Plenarsitzungen der 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen auf den Punkt gebracht.
„Orange“ steht für „warme Gefühle“
Ein Beispiel unter vielen: Ein Pfarrer aus der westafrikanischen Republik Benin war geradezu verzweifelt, weil er den Auftrag hatte, über die Situation seiner Kirche zu berichten. Und das wollte er eben im Plenum tun. Bei all dem überpädagogisierten Verfahren war so etwas aber nicht vorgesehen. Er sollte vielmehr mit der orangen Karte ständig zeigen, ob er „warme Gefühle“ für einen Vorschlag hat, oder mit der blauen, ob es eher „kühle Gefühle“ sind. Weh dem aber, der die blaue Karte zückt. Er muß entweder ans Mikrofon und erklären, warum er nicht übereinstimmt, oder seine abweichende Meinung registrieren lassen.
Wehe, du bist ein Mann über 30
Bei den langen Schlangen an den Mikrofonen konnte es passieren, daß jemand 20 Minuten anstand, aber dann meinte die Sitzungsleitung, nun müsse aber aus Ausgewogenheitsgründen noch eine jugendliche Stimme gehört werden oder die einer Frau, und aus war es mit dem Rederecht, wenn du ein Mann bist über 30. Vielleicht denke ich zu evangelisch und zu westlich, aber das Verfahren hat meine Geduld deutlich überstrapaziert. Es wirkte oft aufgesetzt und hat offene Diskussion kaum zugelassen. Manches wegweisende Projekt der ökumenischen Bewegung ist nun wahrhaftig nicht im Konsens in Gang gekommen.
So entstand eine gewisse Diskrepanz zwischen der Zufriedenheit über die vielen intensiven Begegnungen im kleinen Kreis und dem, was eine Delegiertenversammlung für ihre Mitgliedskirchen leisten sollte. Zudem war manches so vorbereitet, daß Diskussionen ausgeschlossen waren. Das Plenum zum Thema Globalisierung etwa formulierte sehr scharfe Kritik an der Globalisierung und neoliberalen Wirtschaftsformen. Anschließend wurde der „Agape-Call“ verlesen, der vorab verschickt war, ohne daß es Gelegenheit gegeben hätte, das differenziert zu diskutieren. Wenn eine solche Stellungnahme aber als Gebet formuliert ist, wird es ohnehin schwierig, darüber eine Debatte zu führen. Wohl aus Furcht vor inhaltlichen Auseinandersetzungen waren die meisten Stellungnahmen bereits vorbereitet. So wurde ein Dokument zur UN-Reform beschlossen, die als Thema die Vollversammlung gar nicht wirklich berührt hatte.
Europas Kirchen in einer doppelten Defensive
Die europäischen Kirchen befanden sich in einer doppelten Defensive: gegenüber der Orthodoxie, die ihnen gegenüber immer wieder den Vorwurf des Werteverfalls und der Säkularisierung erhebt, und gegenüber den Kirchen des Südens, die ihnen vorwerfen, die Fragen der Armut nicht ernst genug zu nehmen. Das lateinamerikanische Umfeld hat nun dieses Thema allen Teilnehmenden wahrhaftig drastisch vor Augen geführt. Und doch haben die evangelischen Kirchen Europas auch leise, aber beachtlich differenzierende Töne eingebracht neben all den großen Worten über die (nicht eingelöste) Jugendbeteiligung etwa oder mit Blick auf zukünftige Programme zur Biotechnologie. Sie haben den Dialog mit dem Islam angemahnt und die Schwierigkeiten thematisiert, daß über diesen Dialog leicht zur reden ist, wenn Christen nicht in Pakistan, Indonesien oder Nigeria leben. Sie haben gefragt, ob wirklich nur über die Unterdrückung der Palästinenser gesprochen werden kann oder nicht auch das Existenzrecht des Staates Israel eine Rolle spielen muß. Diese Differenzierungen haben nicht immer das Plenum erreicht. Aber die Stimme dieser Kirchen wurde erkennbar. Vielleicht müssen die Kirchen der Reformation wirklich selbstbewußter eine eigene Plattform bilden. Die Delegation aus der EKD jedenfalls war in der Lage, auch divergierende Meinungen offen miteinander zu besprechen.
Die große Frage ist nun: Was bleibt?
Die große Frage ist nun: Was bleibt? Für diejenigen, die teilnehmen durften, sicher eine intensive ökumenische Erfahrung, die prägend wirkt. Für die ökumenische Bewegung die Erkenntnis, daß der Ökumenische Rat sich selbst eher als Raum der Beziehungspflege versteht und nicht als eigener Impulsgeber. Der orthodoxe Erzbischof Anastasios von Albanien erklärte, es sei doch genug, daß wir zusammenbleiben und auch gemeinsam die Armut bekämpfen wollen. Ich denke, das reicht nicht. Nach all den Gesprächen und Dialogen müßte doch irgendwann auch Fortschritt in den trennenden theologischen Fragen erkennbar sein.
Solange sich Kirchen nicht einmal gegenseitig anerkennen
Jemand meinte, den ÖRK als Choreographen zu bezeichnen, sei doch eigentlich genial. Das sei wie beim Samba in Brasilien: jemand müsse nur wenige Impulse geben, und schon formiere sich alles. Daß dem ÖRK dies im Moment gelingt, bezweifle ich – leider. Denn in einer globalisierten Welt wäre eine gemeinsame Stimme der Kirchen hilfreich, ja segensreich. Solange die Kirchen sich aber nicht einmal gegenseitig als Kirchen anerkennen, nicht miteinander Abendmahl feiern können, ist es kaum möglich, glaubwürdig die Welt zu mehr Gemeinschaft aufzufordern. Und doch ist das Engagement für die Ökumene wichtig. Wie heißt es im Epheserbrief: Wir sollen Einigkeit im Geiste bewahren! „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen“ (4,5). So fremd wir uns manchmal untereinander sind, bilden wir doch eine Gemeinschaft im Glauben an Jesus Christus. So schmerzlich unsere Trennung beim Abendmahl auch ist, versammeln wir uns doch alle um den Tisch des einen Herrn. Uns eint die Bibel, in der wir Gottes Wort finden. Und uns eint das Vaterunser, das Christinnen und Christen auf der ganzen Welt sprechen. Von da aus muß es doch möglich sein, mehr Gemeinschaft zu wagen und miteinander zu handeln. Porto Alegre war – bei allen Anfragen – zumindest ein Versuch.
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