Evangelische Ethiker kommen zu unterschiedlichen Urteilen
H a n n o v e r / B o n n / B r e m e n (idea) - Die Erstürmung des von tschetschenischen Terroristen besetzten Moskauer Musicaltheaters wird von evangelischen Ethikern in Deutschland unterschiedlich beurteilt. Bei der Rettungsaktion kamen mindestens 117 Geiseln durch das von den Sicherheitskräften verwendete Betäubungsgas ums Leben, 650 befinden sich noch in Krankenhäusern.
Mit der Überlegung, daß man in einer ausweglos erscheinenden Situation einige Menschen opfere, um möglichst viele zu retten, mache man sich immer schuldig, sagte der Geschäftsführer der EKD-Kammer für öffentliche Verantwortung, Oberkirchenrat Eberhard Pausch (Hannover), gegenüber idea. Zu einer ethisch verantwortbaren Entscheidung gehöre, militärische Gewalt erst dann einzusetzen, wenn alle politischen Mittel erfolglos blieben. Auch danach müßten die Mittel eine Verhältnismäßigkeit erkennen lassen. Weitere Kriterien seien, daß die Befehlenden bereit seien, Verantwortung für ihre Anordnungen zu übernehmen und die Gründe für ihre Entscheidungen öffentlich zu machen.
Auch der Professor für systematische Theologe und Ethik an der Universität Bonn, Ulrich Eibach (Bonn), ist der Ansicht, daß die Konfliktlösung der russischen Regierung politisch kaum und ethisch nicht zu rechtfertigen ist. Politiker und Militärs hätten sich für eine Machtdemonstration entschieden, wie sie es auch in Tschetschenien täten. In ihrem Prestigedenken zählten Menschenleben offensichtlich wenig. Wahrscheinlich vergrößere sich noch die Zahl der Todesopfer, und auch die Überlebenden müßten mit bleibenden Schäden rechnen. Sie seien nicht für eine gerechte Sache geopfert worden, sondern als Folge eines äußerst brutalen Krieges, der allerdings nicht die nicht minder brutale Besetzung des Theaters rechtfertige. Von ernsthaften Verhandlungen über die Forderungen der Terroristen nach einem Ende der russischen Besatzung ihrer Heimat habe man nichts gehört. Deshalb könne sich die Regierung auch nicht darauf berufen, alternativlos gewesen zu sein. Sie habe das staatliche Gewaltmonopol bedenkenlos gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt.
Gegenteiliger Auffassung ist der Ethikprofessor an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule in Basel, Georg Huntemann (Bremen). Die russische Regierung habe “völlig korrekt” gehandelt, sagte er gegenüber idea. Ein Staat, der sich erpressen lasse, mache sich lächerlich. Bei der Befreiung habe man den Tod eines Teils der Geiseln in Kauf nehmen müssen, ohne die Gefühle von deren Angehörigen zu berücksichtigen. Ein späteres Eingreifen der Sicherheitskräfte hätte vermutlich noch verheerendere Auswirkungen gehabt. Der evangelikale Theologe beruft sich auf den Apostel Paulus, der im Brief an die Römer zum Gehorsam gegenüber den Regierungen aufruft, und auf den deutschen Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (1906-1945). Man müsse zur Schuldübernahme bereit sein, wenn man keine anderen Möglichkeiten zur Rettung von Menschen sehe. In der von Gott abgefallenen Welt ließen sich nicht alle Probleme mit Verhandeln und Liebe lösen. (125/2002/2)
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