Startseite Archiv Tagesthema vom 05. April 2022

Für den Sturm gewappnet sein

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Militärseelsorger Thomas Bretz-Rieck flog im Sommer mit den letzten Bundeswehr-Soldatinnen und -Soldaten nach dem Abzug aus Afghanistan zurück nach Deutschland. Jetzt blickt er mit Sorge auf den Krieg in der Ukraine, haben doch manche Bedienstete ukrainische oder russische Angehörige. Im Interview schildert er, wie es "seinen" Soldatinnen und Soldaten jetzt geht.

Herr Bretz-Rieck, im Sommer war die Bundeswehr mit dem Abzug aus Afghanistan und der Evakuierung aus Kabul wochenlang in den Medien, Sie selbst sind in Taschkent gewesen und mit den letzten Soldatinnen und Soldaten zurückgeflogen. Heute dreht sich alles um die Ukraine und plötzlich sollen 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitgestellt werden. Am Wochenende erreichten uns schreckliche Bilder erschossener Ukrainer in den Straßen von Butcha – gleichzeitig gab es einen pro-russische Autokorso in Berlin. Wie nehmen Sie und die Soldatinnen und Soldaten all das wahr?
Bretz-Rieck: Der Krieg zeigt jetzt sein wahres furchtbares Gesicht: Er kennt keine Regeln. Wir Deutschen können das im Moment direkt nicht aufhalten. Diese Machtlosigkeit gegen das offensichtliche Unrecht belastet mich und sicher viele andere auch. Bei unseren Friedensandachten versuche ich den Soldatinnen und Soldaten mitzugeben, dass es gut ist, sich darauf zu konzentrieren, was gerade dran ist. Also: sich bereitzuhalten und sich auf die jeweilige Aufgabe und das, was sie gelernt und geübt haben, zu konzentrieren.

Klappt das? 
Bretz-Rieck: Ja, alle arbeiten sehr professionell. Es herrscht eine ernste Atmosphäre, aber keine Angst. Aber allen ist das ,scharfe Ende‘ des Berufes sehr wohl bewusst: dass Soldat-Sein letztlich auch bedeutet, womöglich töten zu müssen. Ich mache mir Gedanken, wie das sein wird, wenn die Bundeswehr jetzt vor Ort an der Ostflanke der NATO eingesetzt wird. Es gibt unter den Soldatinnen und Soldaten einige mit ukrainischen oder russischen Wurzeln – was bedeutet das für sie, wenn sie womöglich Kräften aus dem Land ihrer familiären Wurzeln gegenüberstehen? Das kann niemand sagen. Allerdings bin ich überzeugt, dass unsere Soldatinnen und Soldaten gegenüber der Bundeswehr absolut loyal sind.

Ist es denn der richtige Schritt, der Bundeswehr 100 Milliarden Euro mehr bereitzustellen? Man hört vieles von der schlechten Ausstattung und großen Bürokratie, auf der anderen Seite werden zum Beispiel beim Mindestlohn um jeden Euro Diskussionen geführt. Viele sind mit einem solch großen Sonder-Budget für die Bundeswehr nicht einverstanden – wie sehen Sie das?
Bretz-Rieck: Ich komme von der Küste und möchte es so sagen: Wenn ein Sturm aufzieht, dann werden Sie natürlich alles tun, damit Sie gewappnet sind und ihr Haus wetterfest ist. Wenn das Anwesen insgesamt gefährdet ist, werden Sie jedes Stück zum Schutz verwenden, das Sie finden können. Der Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung stand noch nie so im Zentrum des gesellschaftlichen Interesses wie aktuell. Das ist auch für die Bundeswehr insgesamt etwas Neues.

Inwiefern?
Bretz-Rieck: Jahre- oder jahrzehntelang wurde die Bundeswehr in der Öffentlichkeit als etwas betrachtet, was irgendwie da war, aber nie groß im Fokus stand. Mit dem Ende des Afghanistan-Einsatzes war der plötzlich da. Teils war ja während der Luftbrücke von Rettern und Helden die Rede. Doch kaum war der Abzug durchgeführt, wuchs wieder Gras über die Sache. Das war übrigens eine moralische Katastrophe für die Soldatinnen und Soldaten. Wie die NATO und mit ihr die Bundeswehr jetzt aus Afghanistan herausgegangen ist, war furchtbar, weil viele das Gefühl hatten, sie lassen die Leute dort allein zurück. In Afghanistan sind in den Jahren zuvor Kameradinnen und Kameraden verwundet worden und gefallen – wofür? Jetzt herrschen wieder die Taliban, oft grausamer als zuvor, dazu kommt eine große Dürre, die Menschen leiden Hunger. Doch wir sind wieder zu Hause.

…wo man in den folgenden Monaten kaum noch etwas aus Afghanistan oder von der Bundeswehr hörte.
Bretz-Rieck: Ja, bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine Ende Februar. Da hat sich die Wahrnehmung der Bundeswehr wiederum gedreht – es ist schon ein starkes Wechselbad der Gefühle.

Christine Warnecke / Themenraum

Militärseelsorge

Militärpfarrerinnen und -pfarrer sind von den landeskirchlichen Diensten freigestellt und Bundesbeamte auf Zeit. Sie halten Gottesdienste in Kasernen und in Feldlagern, bieten Seelsorge und unterrichten die Soldatinnen und Soldaten in ethischer Bildung. Das können schulähnliche Seminare sein oder „Rüstzeiten“ – also Ausflüge, teils auch mit den Angehörigen, auf denen sich die Familien der Soldatinnen und Soldaten kennenlernen und Diskussionen geführt werden. Derzeit gibt es 104 evangelische und etwa 80 katholische Militärpfarrer und -pfarrerinnen in Deutschland.