Startseite Archiv Tagesthema vom 09. Oktober 2015

Tragen und getragen werden

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Diese Geschichte vom Gelähmten oder vom „Gichtbrüchigen“ lese ich als Geschichte vom Tragen und getragen werden. Der Gelähmte wird von vier Männern getragen, vielleicht von vier Freunden oder von vier Verwandten. Die vielen Menschen, die Jesus zuhören, sind so von seinen Worten gefesselt, dass sie diese Notfallsituation gar nicht wahrnehmen. Sie unterlassen das Nächstliegende, nämlich eine Rettungsgasse zu bilden.

Die vier Freunde lassen sich jedoch nicht beirren von den widrigen Umständen. Denn sie haben nur das eine Ziel: dass ihr Freund geheilt wird. Dafür müssen sie sich zu diesem Wanderprediger Jesus durchkämpfen, der in ihrem Ort Kapernaum Station macht. Dazu müssen sie auf das Dach des Hauses steigen und sogar ein Loch in die Decke graben. Sie machen die Erfahrung: Jemanden tragen kann anstrengend sein und erfordert Ausdauer.

Die vier Männer tragen ihren Freund nicht nur auf der Matte. Sie tragen ihn auch mit ihrem Glauben. „Als nun Jesus ihren Glauben sah…“. Der Glaube der vier Männer hat den Gelähmten seiner Heilung nähergebracht. Sicher können sie nicht stellvertretend für ihren Freund glauben. Aber sie können um ihn herum glauben, so wie meine Eltern um mich herum geglaubt haben und ein Netz des Vertrauens zu Gott und zu mir selbst um mich herum geknüpft haben. Ein Netz, das ich erst viel später gespürt habe und heute noch spüre.

Tragen und getragen werden. Jesus sagt zu dem Gelähmten: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Das führt zu Irritationen bei denen, die sich von Berufs wegen mit Sünden und Sündenvergebung auskennen und wissen, dass nur Gott Sünden vergeben kann. Jesus nimmt diese Irritationen in Kauf, weil ihm etwas anderes wichtig ist. Er will dem Gelähmten sagen: Auch ich trage dich. Ich trage deine Sünden. Ich trage deine Gottesferne. Ich bin die Brücke über dem Abgrund, über dem Sund, der dich von Gott trennt. Gott kommt über diese Brücke zu dir. Geh Du aber auch über diese Brücke zu Gott.

„Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen.“ Aus dem Getragenen wird ein Träger. Er trägt sein Bett, seine Matratze, was immer es gewesen sein mag. Er trägt den Hinweis auf seine frühere Lähmung für alle sichtbar mit sich, so wie auch wir unsere Vergangenheit, unsere Lebensgeschichte mit uns tragen. Aber er steht auf seinen eigenen Füßen, er geht aufrecht. Ab jetzt bestimmt er, wohin sein Weg ihn führt. Er ist nicht mehr abhängig von seinen Trägern.

Ich muss zugeben: Ich sehe mich lieber bei den Trägern als bei dem, der getragen wird. Und ich lebe gern in einem Land, das solche Trägerqualitäten gegenüber fremden Menschen entwickelt hat. Ich möchte stark sein, damit ich andere tragen kann, so wie ich meine kleinen Kinder getragen habe, so wie ich Menschen in unübersichtlicher Situation getragen habe. Das fühlt sich gut an.

Aber das andere werde ich wohl auch noch lernen müssen, mich tragen zu lassen - dann, wenn meine eigenen Füße mich nicht mehr tragen werden. Ich sehe Menschen in meiner Umgebung, die dazu bereit wären. Nur: Werde ich dazu bereit sein? Ich hoffe es sehr, denn eins ist unausweichlich: Es wird der Tag kommen, an dem ich mich mit Sicherheit tragen lassen muss, ein allerletztes Mal, von drei Menschen auf meiner rechten Seite und drei auf meiner linken. Bis es soweit ist, gibt es noch viel zu tragen. Ich bin dazu bereit. Bis es soweit ist, möchte ich gelernt haben, mich tragen zu lassen.

Wilhelm Niedernolte (veröffentlicht in der Evangelischen Zeitung, Ausgabe 41)

Der Text

Es kamen einige zu Jesus, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.

(Aus Markus 2, 1-12)

Der Autor

Wilhelm Niedernolte war Pastor in Springe.