Das Evangelium ist kein papiernes Lesewort, die frohe Botschaft von Jesus Christus ist ein sinnliches Klangereignis. Deshalb nimmt die christliche Kirche die Musik als Gabe Gottes an und lässt sich durch sie bewegen. Das gilt besonders für die zentrale Veranstaltung des Gottesdienstes. Als klingendes Wort Christi lädt die Kirchenmusik Menschen zum Glauben ein, tröstet und vergewissert. Klagend und lobend, flehend und dankend gibt sie dem dreieinigen Gott die Ehre.

Es ist eine der grundlegenden Errungenschaften und Erfolgsfaktoren der Reformation, dass sie das Singen in der Volkssprache wieder gewonnen hat. Deshalb ist der gewichtigste Teil des evangelischen Gottesdienstes, der durch Musik geprägt wird, der Gemeindegesang. Dazu passen die „Einsetzungsworte der Kirchenmusik“ aus Kolosser 3,16, die Luther 1534 so übersetzte:
Lasset das wort Christi vnter euch reichlich wonen /
Inn aller weisheit / leret vnd vermanet euch selbs /
mit Psalmen und lobsengen und geistlichen lieblichen (das ist trostlichen / holdseligen / gnadenreichen) liedern
und singet dem Herrn inn ewrem Herzen.
Das kirchenmusikalische Amt, das grundsätzlich allen Christen aufgetragen ist, hat demnach einen prominenten Anteil an der Verkündigung der Kirche. Das klingende Wort Christi singt nicht nur über Christus, Christus selbst teilt sich so in Zuspruch und Anspruch der Gemeinde mit.
Ein breiter Strom evangelischer Kirchenlieder kennt diese verkündigende Dimension. Exemplarisch seien die Festgesänge Vom Himmel hoch, Christus, der uns selig macht und Erstanden ist der Heilge Christ sowie Luthers Nun freut euch, lieben Christen g’mein (EG 341) genannt. Hier wird uns die frohe Botschaft der Rechtfertigung so transparent, dass wir gleichsam einen Blick ins Herz Gottes tun können, der seinen Sohn zur Rettung in die Welt schickt.
Doch das ist nur eine Dimension des Gemeindegesangs. Eine zweite ist die des gesungenen Gebets und Bekenntnisses. Augustin wird der treffende und bis heute gültige Satz zugeschrieben: „Bis orat qui cantat.“ (Doppelt betet, wer singt). Gesungene Gebete in Klage und Lob, Bitte und Dank verbinden den Gottesdienst am Sonntag auch mit dem Alltag. Wir brauchen kleine Ohrwürmer, die unser christliches Leben zu allen Zeiten tragen und unsere Herzen empor zu Gott heben!
Auch wenn das evangelische Kirchenlied mit Paul Gerhardt und Johann Crüger bzw. Johann Georg Ebeling im 17. Jh. gewiss einen kaum wieder erreichten Höhepunkt erlebte, ist die Schaffenskraft in diesem Bereich ungebrochen. So sind seit dem Anfang der 1960erJahre zahllose Neue Geistliche Lieder in popularmusikalischem Gewand geschrieben und verbreitet worden, die unseren Gottesdienst einen wichtigen zeitgenössischen Akzent geben.
Was die adäquate Ausführung neuer Lieder angeht, können hier wenige Bemerkungen genügen: Ein Klavier oder Keyboard bzw. Gitarre mit Melodieinstrument erweist sich oft als besser geeignet zur Begleitung als die Orgel. Deshalb gehört ein Klavier neben der Orgel in jeden Gottesdienstraum. Beinahe noch wichtiger ist es, dass eine Vorsängerin oder ein kleiner Chor die Gemeinde zum Singen des neuen Liedes anleiten.

Folgende Funktionen sind für das Lied der Gemeinde im Gottesdienst zu unterscheiden:
a) Die Gemeinde artikuliert – vor oder nach dem Votum bzw. der Begrüßung – im Eingangslied Freude und Leid, Ängste und Hoffnungen angesichts der aktuellen Situation. Aber auch das Thema des Sonntags im Kirchenjahr, zumal in geprägten Festzeiten, kann hier schon anklingen. Oft beginnt sie mit einer Anrufung Christi (vgl. EG 155) oder des Heiligen Geistes (vgl. EG 156), vielfach auch mit einem Morgenlied, das an die Schöpfung (z.B. EG 455), an Ostern (vgl. EG 162) oder an die Ewigkeit (EG 450) erinnern kann.
b) Kaum eine Liedgattung ist in allen Konfessionen so reich gepflegt worden wie das Psalmensingen. Man unterscheidet den nahe am biblischen Text entlang gehenden Liedpsalm (vgl. EG 270) vom etwas freieren Psalmlied (vgl. EG 289), das zum reformatorischen Urgestein gehört (vgl. EG 273; 361). Das Spektrum reicht hier von der abgründigen Klage (vgl. EG 299; 381) bis zum überschwänglichen Lob (vgl. EG 302).
c) Im zweiten Teil des Gottesdienstes (Verkündigung und Bekenntnis) finden sich häufig Lieder, die das Gepräge des jeweiligen Sonn- oder Feiertags zum Leuchten bringen. Man bezeichnet sie auch als Wochenlieder. Advent und Weihnachten, Passion und Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten sind ohne diese Lieder schlechterdings nicht denkbar. Zentrale Bedeutung haben allgemein Gesänge, die biblische Themen erzählend zu Gehör bringen (vgl. EG 311-314), oder aber eine aktuelle Antwort auf die Verkündigung zu formulieren. Dafür ist besonders das Lied nach der Predigt geeignet, in dem Lesung und Predigt in besonderer Weise nachklingen können.
d) Auch die Feier der Sakramente gehört zu den Höhepunkten eines evangelischen Gottesdienstes. Lieder zu Taufe und Abendmahl können die Gabe des Sakraments poetisch-musikalisch darbieten, zum Glauben einladen, das Geschenk Gottes aneignen und bekennen oder aber Gott dafür loben und preisen.
Beispielhaft seien hier vier neuere Abendmahlslieder genannt, die jeweils einen anderen theologischen Akzent setzen. Kommt sagt es allen weiter (EG 225) nach einem weihnachtlichen Spiritual betont den Aspekt der Einladung zum Mahl, während Kommt mit Gaben und Lobgesang (EG 229 vgl. EG 227) stark das eucharistisch-lobpreisende Moment in den Vordergrund stellt. Das Spiritual Let us break bread together setzt den Akzent auf Gemeinschaft, während das Neue geistl. Lied Wenn das Brot, das wir teilen (C.P. März) den Anbruch des Reiches Gottes unter uns feiert.
e) Im Schlussteil des Gottesdienstes („Schlusslied“) lassen sich drei liturgische „Typen“ unterscheiden. In den Sendungsliedern (vgl. EG 395) wird die Gemeinde ermutigt, das im Gottesdienst Erlebte im Alltag zu teilen und mitzuteilen. Am umfangreichsten ist die Reihe der Segensbitten (vgl. EG 170; 171), die sich an Luthers Verleih uns Frieden (EG 421) anschließen. Sie sollten in der Regel vor dem zugesprochenen Segen platziert werden.
Außerdem gibt es aber auch explizite Segenslieder, in denen sich die Gemeinde den Segen Gottes gegenseitig zusingt (z.B. Der Herr segne dich, EG 563). Unter Umständen kann ein solches Segenslied auch hin und wieder den gesprochenen Segen des Liturgen ersetzen.
f) Eine besondere Bedeutung haben darüber hinaus auch die sonntäglich wiederkehrenden liturgischen Gesänge. Innerhalb des Predigtgottesdienstes sind die beiden gesungenen Amen-Akklamationen zu Beginn und am Ende des Gottesdienstes sowie das Ehr sei dem Vater zu nennen. Innerhalb der Messe verleihen die weitgehend auf biblischen Texten basierenden Stücke Kyrie – Gloria – Credo – Sanctus/ Benedictus – Agnus Dei dem Gottesdienst festlichen Glanz und stärken das rituelle Moment. Auf diese Weise ist die Versammlung der Christen auf der ganzen Welt „wiedererkennbar“. Zu beachten ist dabei, dass hier durchaus verschiedene Vertonungen eingesetzt werden können (vgl. EG 178-190).
Schließen wir mit keinem Geringeren als mit Johann Sebastian Bach. Er schrieb an den Rand seiner Bibel zur musikalisch gestalteten Tempelweihe Salomos (2 Chronik 5): „NB. Bey einer andächtigen Musique ist Gott allezeit mit seiner Gnaden=Gegenwart!“
Von Jochen Arnold, Direktor des Zentrums für Gottesdienst und Kirchenmusik, Michaeliskloster Hildesheim