„Es geht nicht um Heilung“

Mit der modernen Medizin wird der Mensch immer stärker in das ungeborene Leben eingreifen – davon geht die Medizinerin Andrea Dörries aus, Direktorin des evangelischen Zentrums für Gesundheitsethik in Hannover. Beim Gentest am Embryo gehe es nicht um Heilung oder die Linderung von Schmerzen, sondern um die Auswahl menschlichen Lebens nach bestimmten Merkmalen.
Christliche Ärzte transplantieren Organe, um Krankheiten zu heilen. Warum sollten sie dann nicht auch Embryos in der frühesten Phase einem Gentest unterziehen dürfen? Worin besteht Ihrer Meinung nach ein ethisches Problem?
Andrea Dörries: Es ist ärztliche Aufgabe, Krankheiten zu heilen und Leiden zu lindern. Dazu werden heutzutage viele, zum Teil sehr eingreifende und aufwändige Therapien eingesetzt. Dadurch können solche Patienten gesund oder deren Beschwerden gelindert werden, die früher gestorben wären. Dazu gehört auch die Organtransplantation. Der grundlegende Unterschied zur Präimplantationsdiagnostik besteht darin, dass hier nicht ein Mensch geheilt wird, sondern per Gentest einige Embryos herausgesucht werden, die in die Gebärmutter einer Frau eingesetzt werden und andere verworfen werden. Hier geht es nicht um Heilung oder die Linderung von Schmerzen, sondern um die Selektion nach bestimmten Merkmalen.
Sie sind Kinderärztin und Humangenetikerin. Bislang galt eine Fruchtwasseruntersuchung als riskant. Derzeit sind diverse vorgeburtliche Tests zur Routine geworden, obwohl beispielsweise Fruchtwasseruntersuchungen mit einem gewissen Risiko für das ungeborene Kind einhergehen. Als Ärztin, was ist Ihre Prognose, wird Präimplantationsdiagnostik in zehn Jahren ganz normal genutzt?
Dörries: Die Präimplantationsdiagnostik ist immer mit einer künstlichen Befruchtung verbunden – mit all den Belastungen und Nebenwirkungen. Das heißt, vor einer Präimplantationsdiagnostik wird eine künstliche Befruchtung mit Eizellentnahme stattfinden müssen. Dies wird zudem bei Paaren durchgeführt, die eigentlich auf normalem Weg ihre Kinder bekommen könnten. Die mit der Diagnostik verbundenen Belastungen und die geringe Erfolgaussicht für eine Schwangerschaft werden die breite Anwendung der Präimplantationsdiagnostik begrenzen.
Andererseits zeigen Entwicklungen in anderen Ländern, dass die Präimplantationsdiagnostik immer weiter auf andere Erkrankungen oder Situationen ausgeweitet wird: anfangs geht es um das hohe Risiko für schwerwiegende Erkrankungen, später um die Suche nach einem Knochenmarksspender für ein erkranktes Geschwisterkind und dann um das Risiko für eine erst im späteren Lebensalter auftretende Erkrankung. Insofern wird man mit einer Ausweitung ziemlich sicher rechnen müssen.
Fachleute sprechen schon davon, dass bald ein Tropfen Blut der schwangeren Mutter reicht, um genetische Defekte zu erkennen. Wo wird das hinführen?
Dörries: Vorgeburtliche Untersuchungen werden zukünftig möglichst früh in der Schwangerschaft durchgeführt werden, möglichst umfassend viele Erkrankungsrisiken erfassen und möglichst wenig aufwändig sein. Dies soll Schaden von Mutter und Kind abwenden, was eigentlich begrüßenswert ist. Andererseits werden zukünftig aber häufig Erkrankungen und – häufiger – Erkrankungswahrscheinlichkeiten festgestellt werden, die einen erheblichen Beratungsbedarf der werdenden Eltern erforderlich machen. Dafür müssen erheblich mehr finanzielle Mittel und qualifiziertes Personal zur Verfügung stehen, als derzeit vorhanden ist.
Bischof Hein sagte bei Tacheles, dass es einen großen Unterschied mache, ob eine Frau über das Leben in ihr entscheidet, also über einen Schwangerschaftsabbruch, oder das werdende Leben in der Petrischale, also darüber, welchen Embryo sie sich einpflanzen lässt und welchen nicht. Sehen Sie das auch so?
Dörries: Der grundlegende Unterschied liegt darin, dass eine Schwangere über ein Kind entscheidet, das in ihrem eigenen Körper wächst und dessen Bewegungen bzw. Herzschlag sie evtl. schon spürt. Es geht damit um einen konkreten Konflikt zwischen der Schwangeren bzw. Mutter und dem Kind.
Zu den Embryos in der Petrischale, die die Frau bzw. die Eltern in der Regel nicht sehen werden, besteht keine körperliche Beziehung. Bei der Präimplantationsdiagnostik werden vorher nach festgelegten Kriterien Embryos ausgesucht, die die entsprechende Erkrankung nicht aufweisen bzw. kein Risiko für eine bestimmte Erkrankung haben. Dieses Auswählen von bestimmten Embryos ist etwas grundlegend anderes als die Entscheidung über ein im eigenen Körper befindliches Kind.
Auch nach dem weitestgehenden Antrag im Bundestag, betonte die SPD-Politikerin Edelgard Bulmahn am roten Tisch, soll immer im Einzelfall entschieden werden, ob eine Frau die umstrittenen Gentests anwenden darf oder nicht. Wäre es nicht gerechter, nach einer klaren Liste von Erbkrankheiten zu entscheiden?
Dörries: Nach welchen Kriterien soll eine Liste erstellt werden und wer entscheidet darüber? Gegen eine Liste spricht, dass sie bereits lebende Erkrankte stigmatisiert. Zudem sind Erkrankungen in der Regel nicht einheitlich im Verlauf, sondern sie haben verschiedene Ausprägungen: ein Patient ist stärker betroffen, ein anderer weniger. Auch werden Krankheit und Behinderung individuell unterschiedlich verarbeitet und bewältigt. Es ist absehbar, dass die Liste der Erkrankungen mit der Zeit angepasst bzw. geändert werden müsste; die Chance, dass der Katalog ausgeweitet würde, ist sehr groß. All dies spricht nach meiner Einschätzung gegen eine Indikationsliste.
Dr. med Andrea Dörries ist Direktorin des Zentrums für Gesundheitsethik, einer Einrichtung der evangelischen Landeskirche in Hannover. Das Interview wurde als Expertencheck für eine Tacheles-Sendung geführt