Startseite Archiv Nachricht vom 26. September 2018

Gedenkort für gestorbene Kinder von NS-Zwangsarbeiterinnen eingeweiht

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Osnabrück. Hinter der Sonnenbrille schimmern Tränen in den Augen von Silvia van Wel. Doch durch die Trauer in ihrem Gesicht kämpft sich auch ein Lächeln. Die 59-Jährige Niederländerin legt einen Strauß orangefarbener Rosen auf die frisch geharkte Erde vor den drei Sandstein-Stelen. 108 Namen sind dort eingraviert. Namen von Kindern, die meist kurz nach der Geburt starben, weil ihre Mütter NS-Zwangsarbeiterinnen waren. Unter den Kindern war auch Jakoba Diana van Wel, Silvia van Wels Schwester. Sie wurde drei Monate alt. Auf dem Heger Friedhof in Osnabrück haben Mitarbeiter der Stadt und Ehrenamtliche jetzt einen Gedenkort feierlich eingeweiht.  

Wenig erinnert bislang in Deutschland an die gestorbenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen aus der damaligen Sowjetunion, Polen, Frankreich, Italien oder den Niederlanden, kritisiert der freie Historiker Volker Issmer, der seit 25 Jahren zu Zwangsarbeit in der Region Osnabrück forscht. Auch in der universitären Forschung kämen sie kaum vor.

Tausende Kinder wurden bis 1945 unter widrigsten Bedingungen in Barackenlagern geboren. Die Mütter wurden kurz darauf wieder auf die Felder und in die Fabriken gezwungen. Die wenigsten der Säuglinge überlebten länger als ein paar Tage oder Wochen. Niemand kennt die genaue Zahl der Toten, sagt Issmer.

Silvia van Wel ist gemeinsam mit ihren Geschwistern Coby (73) und Jan (62) aus Rotterdam angereist. Erstmals stehen sie am Grab ihrer ältesten Schwester. Sprachlos. Schwägerin Henny fasst die Gefühle aller in einem Satz zusammen. "Wir haben immer gewusst, dass wir eine Schwester haben, jetzt ist es Wirklichkeit geworden."

Die van Wels sind dankbar, dass sie nun wissen, wo ihre Schwester einst beerdigt wurde. Die damaligen Behörden haben akribisch Buch geführt über die Geburten und Sterbefälle in der sogenannten "Gebärbaracke". Diese befand sich im Zwangsarbeiterlager "Fernblick" am südlichen Stadtrand von Osnabrück. Dorthin wurden schwangere Zwangsarbeiterinnen aus Lagern der gesamten Region gebracht.

Zwischen 1943 und 1945 seien im Lager "Fernblick" mindestens 312 Kinder geboren worden, von denen 42 unmittelbar danach gestorben seien, hat Volker Issmer recherchiert. "Viele haben das Lager lebend verlassen, sind dann aber in den Herkunftslagern ihrer Mütter gestorben", erläutert der Historiker. Nach einem im gesamten Deutschen Reich geltenden Erlass sollten ausschließlich die Frauen "auf einfachste Weise" versorgt werden, damit sie weiter arbeiten konnten. Die Kinder hätten als "minderwertig" gegolten: "Man hat sie damals einfach verkommen lassen."

Die Friedhofsmitarbeiterinnen Anika Groskurt und Petra Joachimmeyer hatten Karteikarten mit den Namen einiger dieser Kinder zufällig vor anderthalb Jahren im Archivkeller des Friedhofs entdeckt. Die Kinder seien offenbar in Gräbern beerdigt worden - allerdings ohne Wissen der Angehörigen, erklärt Joachimmeyer. Nach Ablauf der Ruhezeiten seien die Gräber jedoch in den 1960er Jahren aufgelöst und wiederbelegt worden. Groskurt und Joachimmeyer haben das Projekt "Gedenkstein" nun gemeinsam mit Ehrenamtlichen, Schülern und Spendern realisiert.

Aufmerksam verfolgen die van Wels die Feier zu Ehren der kleinen Jakoba und ihrer Leidensgenossen. Schüler legen Sonnenblumen am Gedenkstein ab. Ein Requiem erklingt. Redner mahnen und sprechen Trost zu. "Sehr respektvoll", sagt Coby van Wel. Ihr Name ist die Kurzform vom Jakoba. Ihre Mutter habe ihnen von der Schwester erzählt. Sie habe nicht in einem Lager gelebt, sondern gemeinsam mit ihrem Mann, der Binnenschiffer gewesen sei, für die Nazis Güter aus den Niederlanden nach Deutschland transportieren müssen. Die kleine Jakoba, Ende August 1942 geboren, habe von Anfang an auf dem Schiff mitfahren müssen.

Im Dezember sei sie so krank gewesen, dass die Eltern das Kind in Osnabrück in ein Krankenhaus gebracht hätten. Dort sei sie Weihnachten 1942 gestorben. "An Unterernährung, eitrigem Hautausschlag und Lungenentzündung", zitiert Issmer aus den Klinikakten. "Unsere Mutter ist vor zwei Jahren gestorben", sagt Silvia van Wel. "Bis zuletzt hat sie immer gefragt: Wo ist meine kleine Jakoba?"

epd Landesdienst Niedersachsen-Bremen