Startseite Archiv Nachricht vom 02. August 2018

HIV- und AIDS-Seelsorger Axel Kawalla berichtet von der Welt-AIDS-Konferenz aus Amsterdam

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Amsterdam. Ein riesiger Abakus steht direkt am Ufer des Ij, der Verbindung der Hafenstadt mit den Meeren der Welt. Der Autoverkehr strömt daran vorbei, Kreuzfahrtschiffe legen in unmittelbarer Nachbarschaft an und die Fahrräder stehen zu Hunderten daneben. Vom 23. bis zum 27. Juli ist die Welt-AIDS-Konferenz in Amsterdam zu Gast, zum zweiten Mal seit 1992. An dieser überdimensionalen Rechenmaschine hinter dem Hauptbahnhof strahlen rote Kugeln. Allerdings fallen sie senkrecht zu Boden und können nicht, wie üblich, beliebig hin und her geschoben werden. Die Kugeln stehen für die Zahlen der AIDS-Toten weltweit seit dem Beginn der Epidemie. Im Jahr 2017 sind 960.000 Menschen an den Folgen von HIV und AIDS gestorben. Und sie stehen für die Jahre, in denen die Weltgemeinschaft sich mit dieser Krankheit konfrontiert sieht. Es sind auch die Zahlen der Menschen, die wegen ihrer Infizierung gemieden, geschlagen und in Isolation gedrängt werden. 

Brücken bauen – Barrieren einreißen

16.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vieler Fachgebiete, Mitarbeitende in Krankenpflege und Erziehung, Politikerinnen und Politiker sowie von HIV Betroffene bringen sich gegenseitig in Vorträgen und Podiumsdiskussionen auf den aktuellen Stand. Dieser aktuelle Stand ist: Nein, niemand müsste mehr an der Infektion mit dem HI-Virus sterben. Und zugleich: Nein, es gibt noch keinen Impfstoff und keine Möglichkeit der Heilung. Ebenso wichtig wie ein Impfstoff gegen das Virus brauchen wir einen Impfstoff gegen Intoleranz. Überall dort, wo eine Form von gelebter Sexualität, wo bestimmte Menschengruppen oder die Infizierten selbst bedrängt und kriminalisiert werden, steigen die Infektionszahlen an. Dies betrifft in den letzten Jahren besonders Länder in Osteuropa und Zentralasien. In Russland sind die Neu-Infektionen im letzten Jahr zum ersten Mal auf mehr als 100.000 gestiegen. Das Fehlen von umfassender Sexualerziehung und ein repressiver Umgang mit Homosexualität sind die ersten Gründe für diese Entwicklung.

Und auch wer am Rand einer Gesellschaft steht, ist von HIV mehr bedroht als andere. So erweist sich Migration und Flucht als ein besonderes Risiko, mit HIV infiziert zu werden. Im Jahr 2016 erlitten 36 Prozent aller Migrantinnen zwischen Indien und Nepal sexuelle Gewalt. 60 Prozent aller armenischen HIV-Positiven sind Menschen mit Migrationshintergrund. So schreibt der päpstliche Gesandte für die HIV-Arbeit, Monsg. Bob Vitillo, den europäischen Regierungen, aber auch den Kirchen ins Stammbuch: Mit sechs Prozent aller Geflüchteten weltweit habe Europa keine Krise mit Flüchtlingen, sondern eine Verantwortung, mit der Hoffnung dieser Menschen umzugehen. Denn Migration sei doch immer nur der Tausch eines Lebens im Elend ohne Hoffnung gegen ein Leben im Elend mit Hoffnung. Wie überall im Medizinsektor gelte auch hier: Die Behandlung dieser Menschen ist nicht teuer, sondern sie nicht zu behandeln ist, zu einem späterem Zeitpunkt, immer teurer. Und mehrfach wird während der Konferenz betont: Grundlage des Handelns muss sein, dass jedes Menschenleben gleich viel zählt.

Zu Beginn der Konferenz wurde in der Keizersgrachtkerk ein besonderer Gottesdienst gefeiert. Glaubenvertreterinnen und -vertreter aus Buddhismus, Hinduismus, Judentum, Islam und Christentum sprachen und sangen Gebete aus ihren Traditionen. Die Hoffnung auf Änderung der Verhältnisse hat nicht für alle Religionen höchste Priorität. Doch in dieser Feier wurde deutlich, dass im Hinblick auf die Immunschwächekrankheit für alle Glaubensgemeinschaften politische, theologische und persönliche Schritte nötig sind. In diesem Sinne formulieren die Glaubensvertreterinnen und -vertreter am Ende eine Art Schuldbekenntnis: „Wenn wir uns nicht einsetzen für die von HIV betroffenen Menschen, geht das Menschliche in der eigenen Religion verloren.“ Was in Deutschland überholt zu sein scheint, wird auf der Konferenz von höchster Stelle immer wiederholt: Die Religionen und ihre Vertreterinnen und Vertreter haben eine globale Reichweite, sie werden international, grenzübergreifend wahrgenommen und handeln auf Augenhöhe zu den Menschen.

Der HIV-Selbsttest im Direktversuch

Eine Mitarbeiterin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellt in einer Veranstaltung mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) den neu entwickelten HIV-Selbsttest vor. Auf den Tischen stehen Tee, Rosinenbrötchen und kleine Kartons. Dann fragt sie in die Runde von 70 Anwesenden, ob jemand hier direkt den Test vor allen ausprobieren würde. Chengetai Mano Chifamba aus Zimbabwe arbeitet als Multiplikatorin für Jugendliche in der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Südlichen Afrika. Sie zögert keinen Augenblick, setzt sich und geht Schritt für Schritt die Anleitung durch. Sie piekst etwas Blut aus ihrem Zeigefinger. Dieses wird in ein Fläschchen gefüllt. Text und Infografiken beschreiben sehr klar, wie nacheinander zwei andere Flüssigkeiten dazu gemischt werden und in einen kleinen Behälter gefüllt werden. Erscheinen dort nach einer Weile zwei Punkte, ist die Person HIV-positiv, erscheint ein Punkt, besteht keine Infektion.

Dieser Test ist einer von vielen Fortschritten, die in den letzten Jahren erzielt wurden. Denn ein vorrangiges Ziel ist es, alle potenziell HIV-Infizierten zu testen. Nur wer über seine Infektion Bescheid weiß, kann mit der Therapie beginnen; nur dann hat er oder sie Chancen auf Gesundheit und steckt bei richtiger Behandlung niemanden an. Ein HIV-Test bei einem Arzt, noch dazu in Begleitung der Eltern, ist aber für viele Jugendliche eine Hürde. So ist dieser Selbsttest ein weiterer Baustein, Barrieren abzubauen.

Nach 30 Sekunden schaut Chenge in die kleine weiße Dose: ein Punkt, HIV-negativ. Sie ist erleichtert und erschreckt im Nachhinein über ihre Courage, den Test vor so vielen Leuten auszuprobieren. Sie empfiehlt allen Anwesenden, einen ruhigeren Ort und eine vertraute Person zu suchen, mit der man den Test durchführt.

„Ich doch nicht!“

„Ich doch nicht!“ Das dachte er auch lange, erzählt Gideon Byamugsha auf der interreligiösen Vorkonferenz. Bis er sich 1992 hat testen lassen. Der Test war positiv. Und obwohl es damals ein Schock war, dankt er Gott, dass sich seit diesem Moment kein Mensch mehr bei ihm angesteckt hat. Nur getestet konnte er andere vor einer Infektion schützen – und mit der notwendigen Therapie beginnen, um sich selbst vor dem Ausbruch von AIDS zu schützen. Es sei ein Trugschluss zu meinen, betroffen seien nur die anderen. Und er erzählt eine Geschichte:

Es kämpften einmal das Nilpferd und der Elefant. Es war ein harter Kampf, und der Affe sah zu und klatsche und feuerte sie an: „Kämpft härter, kämpft!“ – Schließlich brach der Elefant dem Nilpferd das Bein und hatte gewonnen. Der Medizinmann kam. Er wandte sich an den Affen und sagte: „Mit einer Sehne von dir werde ich das Nilpferd heilen.“ Der Affe weinte und sagte: „Hätte ich gewusst, dass dieser Kampf mich betrifft, dann hätte ich sie zum Frieden gebracht.“

Als anglikanischer Pfarrer in Uganda begreift Byamugisha seine Infektion als Chance und Auftrag, gegen Stigmatisierung anzugehen: „Heute sind wir vielleicht noch nicht betroffen von HIV; wir können es aber morgen schon sein. Lasst uns Brücken bauen.“

Axel Kawalla