Startseite Archiv Tagesthema vom 06. November 2018

WAR REQUIEM - Schulklassen gestalten Erinnerungskultur zu einem besonderen Werk

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Anlässlich des 100 Jahre zurückliegenden Endes des 1. Weltkriegs führte die NDR Radiophilharmonie gemeinsam mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra Benjamin Brittens "WAR REQUIEM" auf. Kooperationspartner bei der Musikvermittlung für Schülerinnen und Schüler waren die Spezialisten von VISION KIRCHENMUSIK.

„Metal und Mystery sind eigentlich meine Favoriten. Die Musik vom WAR REQUIEM ist aber ähnlich, finde ich. Ist cool. Gefällt mir sehr. Besonders das Dies irae,“ stellt der 16-jährige Mike beim Pausengespräch in der Albert-Schweitzer-Schule Hameln fest. Wochenlang beschäftigte sich seine ganze Klasse mit dem Jahrhundertwerk des englischen Komponisten Benjamin Britten. Denn die Schule durfte an einem landesweiten Projekt teilnehmen, zu dem die NDR Radiophilharmonie eingeladen hatte.

Chefdirigent Andrew Manze hatte das monumentale Werk auf das Programm seines Orchesters gesetzt. Zusammen mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra wollte er an das Ende des 1. Weltkrieges vor hundert Jahren erinnern und ein mahnendes Zeichen setzen. „Es geht um die Kommunikation zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. Wir müssen aus der Vergangenheit lernen. Und damit aus unseren Fehlern“, erläutert er seine Beweggründe.

Für das Team „Discover music!“ der NDR Radiophilharmonie war schnell klar, dass die Aufführung dieses epochalen Werkes von einem groß angelegten Musikvermittlungs-Programm für Schülerinnen und Schüler begleitet werden müsste. Und die Albert-Schweitzer-Schule in Hameln war eine der 12 Schulen, die aus 60 Bewerbungen ausgelost wurden und dabei sein durften.

Der NDR suchte für die Gestaltung dieser anspruchsvollen Aufgabe erfahrene professionelle Kooperationspartner. Auch das landeskirchliche Projekt VISION KIRCHENMUSIK wurde von der Redaktion angesprochen. „Nach der guten Zusammenarbeit in 2017 für die Lukaspassion von Penderecki  freuen wir uns, nun erneut offizieller Kooperationspartner der NDR Radiophilharmonie zu sein und fünf Schulprojekte zu gestalten“, freut sich Silke Lindenschmidt vom Leitungsteam.

So waren die Projektleiter Silke Lindenschmidt und Ulf Pankoke nicht nur in Hameln sondern auch in Aschendorf, Hildesheim, Leer und Lüneburg mit ihren kreativen Ideen willkommene Partner und Ideengeber. Eine Riesenaufgabe.

Wie können Schülerinnen und Schüler sich diesem komplexen Kunstwerk nähern, das für meisten von ihnen fremd und eigenartig wirken muss? Wie können sie das textliche Zusammenspiel von lateinischen Requiem-Texten und der erschütternden Antikriegs-Lyrik des jungen Soldaten Wilfried Owens  verstehen lernen? Wie erschließt sich ihnen die klassisch moderne Tonsprache von Benjamin Britten? Und das Wichtigste: Welche Brückenschläge zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler lassen sich finden?

In enger Zusammenarbeit mit engagierten Lehrerinnen und Lehrer suchte das Team VISION KIRCHENMUSIK gemeinsam mit den Jugendlichen nach Antworten auf diese Fragen. Herausgekommen sind am Ende faszinierende Antworten, in denen sich die jungen Menschen intensiv und tiefgehend auf die Komposition mit all ihren Facetten eingelassen und ganz unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten entwickelt haben.

In Aschendorf wurde „Versöhnung“ das Schlüsselwort, das schließlich zu einer filmischen Collage von Texten und Bildern mit Brittens Musik und einer eigenen Version von John Lennons berühmten Song „Imagine“ führte. Ein Fazit aus Aschendorf lautete: "Das letzte Wort zu haben, ist leicht. Den ersten Schritt zu tun, ist schwer."

Zu einem „Audiowalk“ lud der Profilkurs Kultur der St. Augustinus Schule in Hildesheim ein. Ziel dieses über einen mp-3-Player geführten Weges war,  die Musik Benjamin Brittens an Orte der Stadt zu bringen, die besonders vom Kriegsgeschehen betroffen waren. Dort hatten die Jugendlichen künstlerische Interventionen zu einzelnen Ausschnitten des Requiems vorbereitet.

In der Europaschule Friesenschule Leer konnte an Friedensarbeit mit Kooperationspartnern in Belgien und England angeknüpft werden. Auf diesem Hintergrund  malten und vertonten 62 Schülerinnen und Schüler Aspekte wie Tod, Angst, Hass, Macht oder Rassismus und stellten sie Begriffen wie Liebe, Mut, Toleranz und Leben gegenüber. Ihre Texte bildeten schließlich die Grundlage für ein Video, das alle Ergebnisse bündelte.

Das Projekt des Lüneburger Johanneums verband Brittens Werk mit beklemmenden Flucht- und Kriegserlebnissen, die ihnen geflohene Mitschülerinnen und Mitschüler aus ihren Heimatländern erzählten. Die Interviews wurden in einem Film aufbereitet und musikalisch interpretiert. Dabei waren neben der Originalmusik auch Remixe von Ausschnitten des War Requiems und eigene Kompositionen der Jugendlichen zu hören.

Und die 10. Klasse der Förderschule Albert-Schweitzer in Hameln verwandelte 8 Klassenräume und das Schwimmbad der Schule mit Lichtinstallationen, Videos und Schattenspielen zu beeindruckenden Stationen des Requiems. Beim geführten Rundgang spürte man, dass mit der kreativen Aneignung der schwierigen Requiem-Themen fast nebenbei das Selbstwertgefühl der Jugendlichen gefördert wurde. Gut erkennbar dabei auch die behutsam führende Hand der Lichtzeichnerin Nikola Dicke, die gemeinsam mit Silke Lindenschmidt die Schülerinnen und Schüler bei der künstlerischen Arbeit begleitete.

So konnten sich die jungen Kreativen dieser Schule auch gut behaupten, als sie beim Schultreffen im Interview mit ihrem Schulleiter Oliver Tillmann auf der Bühne  des Leibnizsaales im hannoverschen Kongresszentrum von ihrem Projekt berichteten. Dorthin waren am Morgen des 2. Novembers alle Projektaktiven eingeladen worden, um sich gegenseitig ihre Arbeitsergebnisse vorzustellen.

„Es war schön, die Vielfalt der Schulprojekte zu erleben und zu sehen, mit welcher Ernsthaftigkeit sich die Jugendlichen mit dem War Requiem auseinander gesetzt haben“, zeigt sich Silke Lindenschmidt auch nach drei Tagen begeistert. Besonders in Erinnerung wird ihr der Film aus Lüneburg bleiben mit den Interviewsequenzen von geflüchteten Schülerinnen und Schülern. "Das war im wahrsten Sinn unfassbar. Da hatten viele Tränen in den Augen."

Und dann kam am gleichen Tag der Höhepunkt der Projektphase für die 12 teilnehmenden Schulen: Sie waren Gast im Kuppelsaal bei der großen Generalprobe. Aber nicht nur sie waren da. Viele andere Schulen im ganzen Land hatten sich selbstständig mit dem Unterrichtsmaterial des NDR auf diesen Moment vorbereitet. So konnte der Chefdirigent Andrew Manze schließlich annähernd 1.000 Schülerinnen und Schüler aus ganz Niedersachsen begrüßen und ihnen seine Wertschätzung für das Geleistete ausdrücken. Dann gab er den über 450 aktiven Musikerinnen und Musikern das Zeichen zum Beginn.

Und nun erlebten die Jugendlichen live, womit sie sich monatelang beschäftigt hatten. „Jetzt spürt man es im Bauch, mehr als vorher in der Schule. Und es ist lauter,“ sagt der 16-jährige Luca aus Hameln. Und seine Klassenkameradin Loreen: „Man kann mehr hören hier und zusehen, wie sie spielen. Das ist sehr angenehm.“

Claus-Ulrich Heinke

Musikalische Völkerverständigung