Startseite Archiv Tagesthema vom 16. November 2017

Augenhöhe und Haltung

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Erster interkultureller Arbeitstag zum Thema „Wo kommen wir denn da hin?!“

Noch sind nicht alle Beamer an ihrem Platz, weiß keiner, wo die einzelnen Workshops stattfinden auf dem weitläufigen Gelände des Kulturzentrums Faust in Hannover, aber Pastorin Inga Göbert ist nur ein bisschen aufgeregt, sagt sie. „Ich freue mich, dass es losgeht.“ Denn gleich werden die ersten Teilnehmerinnen und Teilnehmer des interkulturellen Arbeitstags eintreffen: In Vorträgen, Interviews und Workshops werden sie Impulse für ihre ehren- und hauptamtliche Arbeit zum Thema Migration und Integration erhalten. „Wo kommen wir denn da hin?!“ ist der Arbeitstag überschrieben. Inga Göbert vom Haus kirchlicher Dienste, mit dem neuen Projekt „Interkulturelle Kompetenz in Gemeinden“, und ein Team haben ihn organisiert. Rund 80 Mitarbeitende aus Kirchengemeinden, kirchlichen und diakonischen Einrichtungen haben sich angemeldet, um sich mit dem Thema Interkulturalität auseinanderzusetzen. Zum Beispiel Martin Barwich: Der Sozialarbeiter ist Flüchtlingsbeauftragter seines Kirchenkreises Grafschaft Schaumburg und erhofft sich von dem Arbeitstag einen Austausch mit anderen und „das Thema einmal auf einer höheren Ebene zu diskutieren“.

Inga Göbert erinnert in ihrer Einführung daran, dass es Migration schon immer gegeben habe und heute eher der Normalfall als die Ausnahme sei. Und die Vielfalt werde noch zunehmen. Der Arbeitstag ist ein erster Schritt, dieser Tatsache auch innerhalb der Kirche Rechnung zu tragen: Er steht am Anfang eines auf drei Jahre angelegten Projekts, dessen Ziel es ist, Gemeinden und Einrichtungen stärker für das Thema Interkulturalität zu sensibilisieren, es in den Vordergrund zu rücken und die Akteure zu vernetzen.

Dass bei den Gesprächen über Interkulturalität immer Gott im Mittelpunkt stehen müsse, gab Pastor George Andoh von der Initiative Gate (Gaben von Afrika nach Europa) den Teilnehmern mit auf den Weg. Bevor diese auf dem „Faust“-Gelände in Workshops eigene Erfahrungen reflektierten, austauschten und in Ideen ummünzten, erklärte Pfarrer Wolfgang Hüllstrung, Dezernent für Ökumene der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), warum und in welcher Form sich die rheinische Kirche das Thema bereits vor einigen Jahren unter dem Schlagwort „Interkulturelle Öffnung“ auf die Fahnen geschrieben hat. Interkulturalität sei eine zeitgeistige Debatte – deutlich werden müsse der spezifische Beitrag der Kirche, also der Bezug auf Gott und den christlichen Glauben. Zum Begriff der Kultur gehöre – und Hüllstrung bezog sich dabei unter anderem auf den Theologen Christoph Schwöbel – dass es eine Verknüpfung mit Religion gebe. Das Evangelium werde mit dem jeweiligen Zeichensystem einer Kultur zum Ausdruck gebracht, durch Sprache und andere „Zeichen“. Man könne die Bibel, sagte Hüllstrung, als großes Buch der Migrationskultur lesen. Er schlug dabei einen weiten Bogen vom Alten Testament zum Wanderprediger Jesus.

Gespannt lauschten die Zuhörerinnen und Zuhörer Hüllstrungs anschaulich vorgetragenen theologischen Ausführungen. Er nannte auch konkrete Schritte, die die rheinische Kirche geht oder in Zukunft gehen möchte: Durch eine Änderung des Mitarbeitergesetzes soll Menschen aus anderen Kulturen der Weg zu einer Anstellung in der EKiR erleichtert werden. Auch der Zugang zum Pfarrdienst solle leichter werden, etwa, indem auch Masterabschlüsse in Theologie anerkannt würden. Zudem werden neue Gemeindeformen angestrebt, die sich in ihrer Struktur von den traditionellen örtlichen Kirchengemeinden unterscheiden, zum Beispiel als Personalgemeinden und verschiedenen Stufen der verbindlichen Zusammenarbeit.

Angeregt durch das Gehörte und gestärkt durch Mittagessen und Kaffee widmeten sich die Teilnehmer am Nachmittag in Workshops verschiedenen Themen, die das Oberthema Interkulturalität konkretisierten. So ging es in einem Workshop um die Gestaltung interkultureller Gottesdienste. Michel Youssif, Pastor der arabisch- deutschen evangelischen Gemeinde Hannover, und Dr. Michael Wohlers, Projektkoordinator für die Zusammenarbeit mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, legten dar, welche Faktoren dazu beitragen, gelungene interkulturelle Gottesdienste zu feiern. „Wir entwickeln alles gemeinsam“, betonte Youssif. So sei schon die Vorbereitung ein geistliches Miteinander, in das sich viele Kulturen einbringen – es sei eben kein deutscher Gottesdienst mit internationaler Beteiligung. Wichtig seien Lieder, in denen sich jeder zu Hause fühlt. Das „Vater unser“ wird in mehreren Sprachen gesprochen, es gibt Bewegung und Tanz. Um möglichst viele zu erreichen, wird der Gottesdienst in Deutsch und Englisch „moderiert“. Wohlers erklärte: „Kein Gottesdienst ohne Essen.“ Das schweiße zusammen, also essen die Besucherinnen und Besucher vor oder nach den Gottesdiensten gemeinsam.

In einem anderen Workshop diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter der Leitung von Franziska Horn vom Haus kirchlicher Dienste über die Chancen und Probleme, die Jugendliche mit Migrationshintergrund haben. In den Beiträgen wurde deutlich, dass viele sich diskriminiert fühlen – und dass kaum einer davor gefeit ist, selbst dazu beizutragen, andere zu diskriminieren, wenn auch unabsichtlich. Als Ergebnis einer Kleingruppenarbeit wurde vor allem eines klar: Die eigene Haltung zum Thema Interkulturalität muss stets reflektiert werden, damit ein respektvolles Miteinander entsteht.

In einer Schlussrunde im Plenum zeigten die Referenten Perspektiven und Schwierigkeiten der in den Workshops behandelten Themen auf. Augenhöhe, Respekt und die Notwendigkeit, an der eigenen Haltung zu arbeiten, kamen dabei immer wieder zur Sprache – ob es um multireligiöse Feiern ging, die Arbeit mit Geflüchteten, antirassistische Bildung oder interkulturelle Begegnungen in der Seelsorge.

Inga Göbert zieht ein positives Fazit: „Ich freue mich, dass das Thema des interkulturellen Arbeitstages auf so breites Interesse gestoßen ist und sich als relevant für unterschiedliche Arbeitsbereiche von Kirchengemeinden gezeigt hat. Daran wollen wir anknüpfen, die Vernetzung weiter fördern und Projekte anregen und unterstützen.“

Ute Stephanie Mansion

„Wir möchten dazugehören“

Drei Frauen - drei Geschichten, die alle mit Migration zu tun haben und doch ganz unterschiedlich sind: Pastorin Inga Göbert interviewte während des Arbeitstags zu Interkulturalität in Kirchengemeinden und kirchlichen Einrichtungen drei Frauen zu ihren Erfahrungen.

"Mehr Austausch bitte!"

Susanne Spieker war mit ihrem Mann und ihren kleinen Kindern nach Belgien gezogen, als er dort eine Stelle annahm. Ihre Erfahrung: Auch in einem EU-Land wird man als Einwanderin nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen. Sie musste sich mit der Bürokratie herumschlagen, stieß auf Vorbehalte bei Nachbarn gegenüber Deutschen und vermisste Freundinnen und Freunde. „Ich hätte mir damals mehr Menschen gewünscht, mit denen ich mich hätte austauschen können“, sagte die per Telefon zugeschaltete Spieker, die wieder in Deutschland lebt. „Menschen, die vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich.“

"Der Mensch im Mittelpunkt!"

Melanie Bade berichtete von ihren Erlebnissen in einer muslimisch-christlichen Familie. Ihre Mutter ist Muslimin und stammt aus Ghana, ihr Vater, Christ, aus Deutschland. Sie ist in Deutschland aufgewachsen. Die unterschiedlichen Religionen spielten vor allem dann eine Rolle, wenn es zum Beispiel ums Essen ging. Ihre Eltern hatten es den Kindern freigestellt, für welchen Glauben sie sich entscheiden – Melanie Bade ließ sich mit 13 Jahren taufen und arbeitet heute ehrenamtlich im Kirchenvorstand ihrer Gemeinde in Munster mit. Sie wünscht sich, dass zum Beispiel in Fürbitten auch für Muslime gebetet würde. Ihr Sohn habe sie einmal gefragt, warum man sich für eine Religion entscheiden solle – die Frage beschäftigte sie, und sie meint: „Wir sollten den Menschen in den Mittelpunkt stellen.“

"Dazugehören!"

Vilma Schwienhorst kommt aus Litauen und hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Als sie für ein Forschungsstipendium nach Deutschland kam, lebte sie zunächst abwechselnd einen Monat hier, einen Monat in Litauen. „In diesen Einsamkeitsphasen gaben mir Gottesdienste Halt“, erzählt sie. Irgendwann reichte das nicht mehr; sie wollte noch mehr „dazugehören“. Und sie weiß, dass es anderen Einwanderern und Einwanderinnen ebenso geht: „Es gibt viele Menschen, die leise schreien: ,Wir möchten dazugehören‘.“