Startseite Archiv Tagesthema vom 15. September 2017

„Gott vergisst nicht die, die vergessen“

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Ehrenamtliche gestalten Piccolo-Gottesdienste für Demenzkranke in Ankum

Ein Altar mit einer Kerze darauf, ein Halbkreis von Gläubigen ringsherum und eine Pastorin im schwarzen Talar – ein fast „normaler“ Gottesdienst in Ankum im Sprengel Osnabrück. Doch bei dem Ort handelt es sich nicht um eine Kirche, sondern um einen Raum im DRK Alten- und Pflegeheim Henry Dunant. Deshalb ist der Altar ein umfunktionierter Tisch; die Gläubigen sitzen nicht auf Bänken, sondern teilweise in Rollstühlen, und die Pastorin? Doch, die Pastorin, Angelika von Clausewitz, die ist die gleiche wie im Gottesdienst sonntags in der Kirche.

„Wir versuchen, für unsere demenzkranken Patienten eine Situation zu erschaffen, wie sie sie aus ihrer Vergangenheit kennen - nur, dass sie hier in einem geschützten Raum sind“, sagt Elfriede Haarannen vom Seelsorgeteam des Altenheims. Sie hat die Piccolo-Gottesdienste vor sechs Jahren mit aus der Taufe gehoben. „Uns war es damals wichtig, dass die Gottesdienste von Geistlichen abgehalten werden, nicht von Betreuern aus dem Heim – damit sie so authentisch wie möglich sind“, so die Frau mit Brille, blonder Kurzhaarfrisur und freundlichem Lächeln. Das unterscheidet den Piccolo-Gottesdienst in Ankum von denen in anderen Heimen. „Gott vergisst nicht die, die vergessen“ – das steht schließlich auf dem Flugblatt des Projekts, das im November 2013 mit dem Bonifatiuspreis des Bonifatiuswerkes ausgezeichnet wurde. 

Vor der Tür des Gruppenraums, in dem der Gottesdienst an diesem Nachmittag stattfinden soll, stehen mehrere Rollatoren. Wenige Minuten vor Beginn betritt die letzte Bewohnerin den Raum, begleitet von einer Pflegerin. Für die Demenzkranken ist der etwa halbstündige Gottesdienst eine Herausforderung; fällt es ihnen je nach Tagesform doch nicht gerade leicht, sich zu konzentrieren. Deshalb kommen auch kurzfristig noch Bewohner, die dabei sein wollen. „Unsere Mitarbeiter sprechen die Bewohner auf den Stationen gezielt an, ob sie nicht wieder Lust auf einen Gottesdienst haben. Manche sind nur einmal dabei, manche kommen immer wieder“, berichtet Elfriede Haarannen.

Langsam kehrt Ruhe in dem großen Raum ein. Dann fällt eine Krücke um. „Ich hab ́ doch gesagt: der spurt überhaupt nicht!“, ruft ein weißhaariger Mann aus der Gruppe in den Raum. Doch niemand lacht. Manche der Bewohner gucken ins Leere; einige scheinen zu schlafen. Pastorin von Clausewitz schlägt mit einem Schlegel gegen eine Klangschale. Der dumpfe Klang hält einige Sekunden an. „Das ist ja wie in unserer Kirche“, sagt wieder der demenzkranke Mann - so laut, dass es alle hören können.

Das ist wohl der größte Unterschied zum „normalen“ Gottesdienst: Es macht nichts aus, wenn die an Demenz erkrankten Bewohner laut sprechen oder Geräusche machen; sie brauchen nicht das Gefühl zu haben, dass sie stören – ganz im Gegenteil. „Wir haben schon erlebt, dass eine Frau, die kaum noch sprechen konnte, plötzlich den Refrain eines alten Kirchenliedes mitgesungen hat. Wenn solche Erinnerungen wach werden, das sind schon besondere Momente“, sagt Mitorganisatorin Elfriede Haarannen. „Egal, wie sie sich äußern – für uns spielt es keine Rolle, welche Geräusche sie machen. Denn wir wissen nicht, was im Inneren der Patienten gerade vor sich geht“, fügt die gelernte Altenpflegerin hinzu. Auch an diesem Tag hört man von einer Frau, die in einem speziellen Rollstuhl liegt, wie sie während des Vaterunsers mit geschlossenen Augen einige Zeilen mitspricht.

Eine andere Bewohnerin wird wenige Minuten nach Beginn des Gottesdienstes unruhig. „Ich kann das jetzt nicht hören, das ist mir heute alles zuviel“, sagt die gebeugt in einem Rollstuhl sitzende Frau. Schnell wird Platz gemacht. Ihre Betreuerin schiebt sie durch die Tür nach draußen. Auch das ist im Piccolo-Gottesdienst unkompliziert machbar. „Normalerweise würde ich sagen: `ach, bleiben Sie doch noch, versuchen Sie es! ́ Aber hier ist das anders. Niemand muss sich anstrengen – was nicht geht, das geht nicht“, sagt Pastorin Angelika von Clausewitz. „Anfangs war ich sehr aufgeregt, das hat sich inzwischen gelegt“, sagt die Pastorin und lächelt. „Wir haben hier eine tolle Möglichkeit, mit Menschen in unterschiedlichen geistigen Stadien zu kommunizieren, und vielleicht auch, es auszuhalten.“ Einmal im Monat findet der Ökumenische Piccolo- Gottesdienst statt. Von Clausewitz wechselt sich dabei mit Kaplan Stefan Tietje ab. Das sechsköpfige Seelsorgeteam ist immer dabei.

„Gott spricht: ich schenke Euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ So lautet die aktuelle Jahreslosung. Anschließend heißt es im Alten Testament: „Und ich nehme das steinerne Herz aus Eurem Leib weg und gebe Euch ein Herz aus Fleisch.“ Dieses neue Herz aus Fleisch, dass das alte, steinerne ersetzt, das hat hier für Landessuperintendentin Birgit Klostermeier eine besondere Bedeutung: „Für viele Menschen und auch Angehörige ist der Umgang mit Demenzkranken sehr schwer, weil sie nicht verstehen können, wohin der `alte ́ Geist entschwunden ist. Wer in diesen neuen, vielleicht oder wahrscheinlich letzten Lebensabschnitt übergeht, der wird von Gott aber ebenso geliebt wie alle anderen. Dass jemand sein Gedächtnis verliert und nicht mehr `der Alte ́ ist, das bedeutet nicht, dass er weniger menschlich oder weniger wertvoll ist“, sagt die Osnabrücker Regionalbischöfin bei ihrem Besuch in Ankum.

Nach einem gemeinsamen Lied spricht Pastorin von Clausewitz ein Gebet. Auch das Glaubensbekenntnis wird später noch gesprochen. Die Jahreslosung ist auch Thema dieses Piccolo-Gottesdienstes. Angelika von Clausewitz nimmt ein großes Herz aus Fotokarton in die Hände und trägt es direkt an die Bewohner heran. „Was ist das?“ fragt sie, „welche Farbe hat es?“ „Das ist ein Herz. Mein Herz schmerzt auch manchmal“, sagt der quirlige Bewohner, der sich schon zu Beginn des Gottesdienstes zu Wort gemeldet hat. Die Pastorin trägt das Herz weiter. Sie nimmt den Gedanken des Mannes auf und spricht von Herzschmerzen, die kleiner werden, wenn jemand einen lieb hat, und wie man selbst dann größer wird. „Auch wenn unser Herz für jemanden schlägt, wenn wir verliebt sind, dann klopft das Herz ganz besonders“, sagt die Pastorin an die Bewohner gerichtet.

Der Name „Piccolo-Gottesdienst“ kommt - wie der Name schon sagt – von den kleinen Sektfläschchen. Spritzig sollen die Gottesdienste sein, und kurz. Sie sollen anregen und munter machen. Deshalb gestalten die beiden Seelsorger und das sechsköpfige Team die Gottesdienste so, dass sie alle Sinne berühren – im wahrsten Sinne des Wortes. Es sind vertraute Lieder und Klänge zu hören; passend zu den Themen des jeweiligen Gottesdienstes gibt es Gegenstände, die ertastet werden können; duftende Blumen sind dabei; eine Kerze; die Klangschale, und die liturgische Kleidung der Geistlichen sorgt für das gewohnte Umfeld eines Gottesdienstes. Außerdem wichtig: eine einfache Sprache und Ansprache. Als die Pastorin den Segen spricht, geht sie direkt zu jedem der etwa ein Dutzend Demenzkranken. Sie legt jedem einzelnen vorsichtig die Hände an die Stirn und sagt die Worte der Jahreslosung. Für einen Moment wird es völlig still im Raum. 

„Geh ́ aus mein Herz und suche Freud“ – mit diesem Lied findet der Piccolo-Gottesdienst sein Ende. Nebenan ist eine Kaffeetafel gedeckt, an der die meisten der Bewohner mit ihren Angehörigen oder ehrenamtlichen Helfern Platz nehmen. „Schwester, müssen wir denn heut ́ noch arbeiten?“ ruft der lautstärkste unter den Bewohnern wieder. „Ich schon, Sie auch?“ fragt Elfriede Haarannen zurück. „Nein, ich bin ja Rentner“, sagt der Mann und lacht.

„Ob ich beim nächsten Mal wieder komme? Ja, wenn ich dann noch lebe“, sagt eine 92-jährige Bewohnerin des Ankumer Altenheims im Gespräch mit Landessuperintendentin Birgit Klostermeier. Den meistern Bewohnern des Altenheims ist der Ernst ihrer Lage bewusst – trotz oder auch wegen ihrer Demenz. „Ich werde hier bleiben, bis zum Ende, das haben wir so abgemacht“, sagt eine andere betagte Frau. Der Piccolo-Gottesdienst kann daran nichts ändern. Er kann den demenzkranken Bewohnern aber einmal im Monat das Gefühl geben, einen für sie völlig normalen Gottesdienst zu feiern.

Katharina Lohmeyer

Über das Projekt

Wie sieht der Alltag eines gläubigen Ehepaares aus, das zwei unterschiedlichen Religionen angehört? Was bedeutet es für Demenzkranke, ihr Gedächtnis zu verlieren? Und wie kann man Menschen unterstützen, die ein neues Herz bekommen sollen?

All diese Fragen drehen sich um die aktuelle Jahreslosung der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für das Bibellesen:

„Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“

Mit diesen Worten im Gepäck wird die Landessuperintendentin Dr. Birgit Klostermeier in diesem Jahr zum zweiten Mal im Sprengel Osnabrück unterwegs sein. Sie besucht das ganze Jahr über verschiedene Einrichtungen und Initiativen. Dabei trifft sie Ehrenamtliche, Organisatoren, Seelsorger und Betreuer. Mit der Reihe „Sprengelfrüchte“ will die Regionalbischöfin zeigen, wie vielseitig das Engagement im Sprengel Osnabrück ist – zwischen Syke und Glandorf, zwischen Diepholz und Melle. 

sprengelfruechte.de

Ausgezeichnet

Das Projekt „Piccologottesdienst – Ökumenischer Gottesdienst für Menschen mit Demenz“ im DRK-Alten- und Pflegeheim Henry Dunant in Ankum ist 2013 mit einem Sonderpreis im Wettbewerb um den „Bonifatiuspreis für missionarisches Handeln in Deutschland“ geehrt worden. 

Der Gottesdienst für Menschen mit Demenz hat sich im DRK-Alten- und Pflegeheim seit Mai 2011 etabliert. Einmal im Monat wird er angeboten von Seelsorgern der beiden christlichen Kirchen. Der Name „Piccologottesdienst“ beschreibt eine kleine, die Sinne anregende ökumenische Feier, die sich an den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert. Sie erlaubt aktives Mitfeiern durch Singen, Klatschen, Fühlen und Riechen. So erfahren die Menschen, die sich oft auf „ihren Erinnerungsinseln“ befinden, Geborgenheit und Gemeinschaft, in der altbekannte Rituale Erinnerungen aufkommen lassen.

DRK Kreisverband Osnabrück Nord