Startseite Archiv Tagesthema vom 09. August 2017

Verantwortung vorleben

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Ingrid Willing und Arnulf Baumann sind Vorbilder im christlich-jüdischen Dialog Verein Begegnung – Christen und Juden/ Niedersachsen vergibt Blickwechselpreis 2017

Die Langenhagenerin Jüdin Ingrid Willing und der Wolfsburger Lutheraner Arnulf Baumann wurden heute mit dem Blickwechselpreis 2017 des Vereins "Begegnung – Christen und Juden. Niedersachsen" ausgezeichnet. Die beiden Preisträger hätten „eine persönliche, authentisch getragene, lebensprägende Verantwortung vorgelebt“, sagte der Schirmherr des Blickwechselpreieses, der Landesbischof der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Ralf Meister, in seinem Grußwort. Seit 2016 ist Meister Schirmherr des Preises für langjährigen und innovativen Einsatz im christlich-jüdischen Dialog.

Willing war vom Arbeitskreis Juden und Christen der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hannover vorgeschlagen worden. Sie „verkörpere den Dialog mit ihrer ganzen Person“ und habe sich als Vorstandsmitglied der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover „als Brückenbauerin zwischen Religionen und Generationen engagiert“, begründete der Arbeitskreis seinen Vorschlag unter anderem.

Christoph Rehbein, Pastor der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hannover, würdigte Willing in seiner Laudatio als „einen Menschen des Gesprächs“, als „Tochter des Gebotes der Nächstenliebe“, die im Dialog der Religionen nicht künstlich harmonisiere.

„Du bist tatsächlich eine Brückenbauerin nach diesem Riss, nach diesem Verbrechen in diesem Lande“, sagte auch Gábor Lengyel, der Senior-Rabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover mit Bezug auf die Shoa. Willing baue eine Brücke zu den Vertretern der christlichen Religion, sagte Lengyel.

„Arnulf Baumann hat seit den 1960er Jahren über mehrere Jahrzehnte entscheidend zu dem heute in der evangelischen Kirche erreichten Konsens über ein neues Verhältnis zum Judentum beigetragen“, sagte Wolfgang Raupach-Rudnick, ehemals Beauftragter für Kirche und Judentum im Haus kirchlicher Dienste der Landeskirche in seiner Laudatio über den anderen Preisträger.

Als Mitglied der Studienkommission der EKD sei er an allen drei EKD-Studien „Christen und Juden“ maßgeblich beteiligt gewesen. Die Studie I von 1975 sei für die EKD ein Meilenstein gewesen. Der Preisträger war zudem lange Zeit Herausgeber und Schriftleiter von „Friede über Israel“ (heute „Begegnungen“) und im Zentralverein für Begegnung von Christen und Juden sowie vielen anderen Organisationen auf verschiedenen Ebenen bis hin zum Ökumenischen Rat der Kirchen und zum Lutherischen Weltbund aktiv.

Beide Preisträger erhielten als Zeichen für den undotierten Preis einen künstlerisch gestalteten Granatapfel – ein Symbol dafür, wie eine Frucht viele neue Früchte hervorbringen kann. Überreicht wurde der Preis vom Landesbischof.

Die Preisträgerin Ingrid Willing nutzte in ihren Dankesworten die Gelegenheit, für den Dialog der Religionen zu werben. „Meine Aufgabe, in meinem kleinen Rahmen sehe ich darin, einen anderen Blick auf das Judentum zu vermitteln, einen Blickwechsel vorzunehmen! Das Judentum ist die Wurzel des Baumes auf dem wir alle stehen, die Wurzel unseres Glaubens an den einen Gott. … Wir gehen verschiedene Wege, aber wir haben ein Ziel. Ich kann nicht sagen: Nur mein Weg ist der Richtige und den musst du auch gehen“, sagte die Preisträgerin“, sagte Ingrid Willing.

Arnulf Baumann sieht die Veränderungen, die der christlich-jüdische Dialog in den Kirchen bewirkt haben, zugleich aber die aktuellen Herausforderungen des Dialogs: „Wir sind immer noch dabei, Gedanken und Worte zu finden, die das Verhältnis angemessen zur Sprache bringen können. Wir sind immer noch dabei, einander verstehen zu lernen. Wir sind immer noch dabei, Möglichkeiten des Miteinanders zu erkennen und zu praktizieren.“ Daher „ist noch sehr viel zu tun für die nächsten Generationen.“ 

Rund 80 Besucherinnen und Besucher christlicher, jüdischer, aber auch muslimischer Gemeinden nahmen an der Preisverleihung in der hannoverschen St.-Petri-Gemeine teil, darunter die Präsidentin des Landesverbandes Israelitischer Kultusgemeinden Niedersachsen, Katarina Seidler, der Vorsitzender der Deutsch-israelischen Gesellschaft, Dr. Kay Schweigmann Greve, sowie Vorstandsmitglieder der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit Hannover, Celle und Göttingen sowie Vertreter des Forums Kultur und Religion vom Forum Dialog Niedersachsen. 

Der Blickwechselpreis wird seit 2007 verliehen, zunächst zweijährlich, seit 2015 jährlich. Vor Willing und Baumann erhielten ihn Dr. Gábor Lengyel, Rabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover (2007), Hans-Joachim Schreiber, langjähriger Leiter des theologischen Gesprächskreises in Kooperation mit der Gesellschaft für Christlich–Jüdische Zusammenarbeit Hannover (2009), Elke von Meding, engagiert in der Gedenkstättenarbeit und -pädagogik Bergen–Belsen (2011), Bärbel Zimmer, langjährige Leiterin des christlich-jüdischen Gesprächs Hannover-Kleefeld (2013), Rachel Dohme, Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hameln (2015) und Hans-Georg Spangenberger, Pastoralreferent in Hameln (2016). 

Stefan Heinze

Der Verein

Der 1982 gegründete Verein "Begegnung – Christen und Juden. Niedersachsen e.V. (BCJ)" macht vielfältige Angebote zum Kennenlernen des Judentums, der Begegnungen mit Jüdinnen und Juden, dem Studium der christlich-jüdische Beziehungen und der Gestaltung des christlich-jüdischen Dialogs in Niedersachsen und leistet damit einen wichtigen und einzigartigen Beitrag für die Kirchen der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen und die Kirchengemeinden. 

Der derzeit rund 250 Mitglieder zählende Verein vermittelt insbesondere Menschen in Kirchengemeinden und Kirchenkreisen Kenntnisse über das Judentum und über eine erneuerte Theologie im Gegenüber zum Judentum. Er bekämpft Judenfeindschaft und politischen Antisemitismus in Kirche und Gesellschaft und fördert Projekte, die der Versöhnung von Juden, Christen und Muslimen dienen.

Stefan Heinze

Ingrid Willings Weg

Schon in meinen Kinder- und Jugendjahren versuchte ich, eine religiöse Heimat zu finden. Mein Vater war Atheist. Meine Mutter erzählte sehr wenig von ihren jüdischen Wurzeln und fand in der christlichen Religion keine Heimat. Ich versuchte in evangelischen wie auch in katholischen Gemeinden Fuß zu fassen. Es gelang mir nicht.

Der Wunsch, meine Wurzeln kennen zu lernen, wurde immer stärker. Schon meine Mutter hatte Briefkontakt zu entfernten Verwandten in Israel. Nach ihrem Tod führte ich diesen Kontakt weiter und 1971 fuhr ich mit einer katholischen Gruppe unter Leitung eines singenden Paters zum ersten Mal nach Israel. Er hatte Verständnis für meinen Wunsch, mehr von der jüdischen Religion zu erfahren, und wies mich auf die Bücher von Schalom Ben Chorin hin. Ich habe mich mit ihm in Verbindung gesetzt und seine Bücher mit großem Interesse gelesen. Aus dieser Begegnung ist eine lebenslange Freundschaft geworden. Wir besuchten uns viele Male gegenseitig. Er hat mir den Weg gewiesen und war ein großer Brückenbauer zwischen den Religionen. Ich nahm Kontakt zur jüdischen Gemeinde in Hannover auf. Dort lernte ich Rabbiner Henry Brandt kennen, der mich auf meinem Weg bestärkte. Als ich in den achtziger Jahren Mitglied der jüdischen Gemeinde wurde, erlebte ich die große und für mich überraschende, unerwartete Freude, dass mein Sohn mit mir ging. Das uralte Band, das zerrissen worden ist in den Hitlerjahren, ist neu geknüpft worden.

Ich engagierte mich in der jüdischen Gemeinde und war Mitgründerin der Liberalen Gemeinde Hannover. Mein Sohn, der inzwischen nach Hessen gezogen ist, gründete dort eine liberale jüdische Gemeinde in Felsberg, erweckte eine alte Synagoge von ca. 1830 wieder zum Leben. Seine Frau und er gestalten die Gottesdienste. Das ist eine große Freude für mich.