Startseite Archiv Tagesthema vom 07. Januar 2017

Die Kinder von Terres des hommes

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Vor 50 Jahren wurde das Kinderhilfswerk gegründet - Rund 200 Vietnamkriegsopfer wurden in Deutschland behandelt

Die Macht der Bilder hat die Vietnamesin Chinh Vo Thi einst nach Deutschland gebracht. Bilder von verwundeten und verängstigten Kindern, Opfer des Vietnamkriegs, gingen in den 1960er Jahren um die Welt. Der Grafik-Designer Lutz Beisel war zutiefst erschüttert: "Die Bilder haben mir den Schlaf geraubt."

Beisel gründete nach dem Vorbild der gleichnamigen Schweizer Organisation am 8. Januar 1967 in Stuttgart das Kinderhilfswerk terre des hommes, um schwer verletzte Kinder nach Deutschland holen zu können. 

Vo Thi gehörte zu den rund 200 Mädchen und Jungen, die bis 1971 zur medizinischen Behandlung eingeflogen wurden. "Ich bin hier und warte auf Dich", habe ihr Vater damals beim Abschied zu ihr gesagt. "Diesen Satz habe ich nie vergessen", sagt die 53-Jährige heute.

Sie hat ihren Vater nicht wiedergesehen. Ein Jahr später ist er gestorben, "weil er krank war und aus Sehnsucht nach seiner Tochter", erzählt Vo Thi in einer E-Mail dem epd. Sie selbst kehrte erst 1974 in ihre Heimat zurück. 

Terre des hommes hatte mit der vietnamesischen Regierung vereinbart, dass die Jungen und Mädchen nach Vietnam zurückgebracht würden, wenn ihre Behandlung abgeschlossen wäre. Die Patienten im Alter zwischen vier und 16 Jahren hatten Granat- oder Bombensplitter abbekommen, Schussverletzungen, Verbrennungen, manche waren querschnittsgelähmt oder blind. 

Auch Tho Beckmann ist eines der "Kinder von terre des hommes". Diese Bezeichnung hat die 65-Jährige für sich und die anderen geprägt. "Denn unser Leben bleibt immer mit terre des hommes verbunden." Sie gehört zu den ganz Wenigen, die in Deutschland geblieben sind. Nach dem Zusammenbruch des Regimes in Südvietnam im Frühjahr 1975 habe es keine Rückführungen mehr gegeben. Das sei ihr Glück gewesen.

Für Beckmann, die durch eine Schussverletzung querschnittsgelähmt ist, entwickelte sich danach eine ganz besondere Beziehung zu "ihrem" Kinderhilfswerk. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin. Kurz darauf bekam sie eine Stelle bei terre des hommes. Später arbeitete sie als Referentin für Vietnam. Auch nach 42 Jahren denkt sie nicht ans Aufhören: "Ich bin verwurzelt mit terre des hommes. Und ich fühle, dass meine Arbeit immer noch einen Sinn hat."

Und immer kümmerte sich Beckmann auch um die nach Vietnam zurückgekehrten Kriegsopfer - bis heute. "Die, die noch leben, brauchen immer noch Hilfe. Sie leiden jetzt im Alter und aufgrund des feuchten Klimas unter den Spätfolgen ihrer Verletzungen", sagt die Ehefrau und Mutter eines erwachsenen Sohnes. Auf dem Land sei auch die Infrastruktur noch immer nicht so, dass etwa Rollstuhlfahrer dort selbstständig leben könnten. 

Operationen, Therapien und Anpassungen von Prothesen in Deutschland dauerten damals oft Jahre, erzählt Beckmann. Viele Kinder verbrachten Monate in Kliniken. Auch Chinh Vo Thi verbrachte zweieinhalb Jahre im Krankenhaus in Hamburg-Barmbek, musste mehrfach operiert werden. Bombensplitter in ihrer Schulter hatten auch bei ihr eine Querschnittslähmung verursacht. Eine Pflegemutter holte sie an den Wochenenden zu sich nach Hause. "Ich habe nur schöne Erinnerungen daran." Danach sprach sie nur noch Deutsch. 1971 wurde sie nach Dehme nahe Bad Oeynhausen gebracht. 

Dort hatte terre des hommes ein Pädagogisches Zentrum eingerichtet, um die Jungen und Mädchen auf die Rückreise vorzubereiten.

Sie erhielten Unterricht in Vietnamesisch und Deutsch und bekamen eine berufsbezogene Ausbildung. "Ich kann nur sagen, dass war die schönste Zeit meines Lebens", sagt Vo Thi. "Hier lebten wir zusammen wie eine große Familie. Uns fehlte nichts."

Im November 1974 wurde Vo Thi zusammen mit anderen zurückgebracht. Vor allem der Anfang in dem von Armut geprägten Land sei schwer gewesen, erinnert sie sich. Aber sie hat es geschafft. Heute lebt Vo Thi in einer Wohnung neben einem Reha-Zentrum, das terre des hommes 1983 errichtet hat, und arbeitet für eine deutsche Firma: "Bis heute denke ich noch gerne an die Vergangenheit. Ich danke so vielen lieben Menschen in Deutschland. Wenn terre des hommes mich nicht dahin gebracht hätte, weiß ich nicht, was aus mir geworden wäre."

Martina Schwager (epd)

Weltweite Hilfe

Das am 8. Januar 1967 von engagierten Bürgern gegründete Hilfswerk hat seine Geschäftsstelle in Osnabrück und arbeitet von Anfang an mit Partnern in den Entwicklungsländern vor allem in Afrika, Asien und Lateinamerika zusammen. 

Das Kinderhilfswerk hat im vergangenen Jahr nach eigenen Angaben 22,7 Millionen Euro eingenommen. 18 Millionen davon waren Spenden. Mit dem Geld habe terre des hommes rund 800.000 Kindern und Jugendlichen überwiegend in Süd- und Südostasien, Lateinamerika, Afrika und Europa helfen können.

epd

Erde der Menschlichkeit

Der Gründer von terre des hommes, Lutz Beisel, hat angesichts der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit in Deutschland diejenigen Politiker kritisiert, die mit ihren Konzepten und ihrer Wortwahl den Populismus starkmachten. "Wenn ich Worte wie Obergrenze höre, kriege ich einen Groll. Das sind Begriffe, die mir wehtun", sagte Beisel in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit Blick auf entsprechende Forderungen aus der CSU. Es verbiete sich einfach humanitär, von einer Obergrenze zu sprechen. "Man kann sagen, der Eisenbahnwaggon ist voll. Wenn das so ist, muss man eben einen zweiten anhängen."

In der heutigen Gesellschaft komme es vor allem darauf an, den Kindern humanitäres Denken und Handeln zu vermitteln, betonte Beisel: "Das ist für mich eine Bildungsfrage, vor allem eine Frage der Herzensbildung." Kinder dürften nicht so erzogen werden, "dass sie als gut geölte Zahnräder in die Gesellschaft passen". Sie sollten sich mit ihren Talenten entfalten können. "Dann können sie auch später dabei mitwirken, eine terre des hommes zu schaffen, eine Erde der Menschlichkeit."

Martina Schwager (epd)