Startseite Archiv Tagesthema vom 15. September 2016

„Gewaltfreiheit braucht Mut“

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Auch mit Terroristen an einen Tisch setzen

epd: Herr Enns, wie sehen Sie die Rolle der Religionen in Konflikten? Sind sie Teil der Lösung oder Teil des Problems?

Fernando Enns: Religionen sind immer in der Gefahr, dass sie missbraucht werden. Missbraucht für die Legitimation von Gewalt aufgrund irgendeiner höheren Wahrheit, einer irgendwie gearteten göttlichen Legitimation, nach der vermeintlich Gewalt angewendet werden darf, um eine bessere Welt zu erreichen. Das ist fatal, weil Religionen viel eher Teil der Lösung des Problems sein könnten, wenn ihre Anhänger die eigenen Quellen angemessen studieren und leben würden. Denn wir finden in allen Religionen den klaren Hinweis auf die Liebe zum Nächsten, zur Nächsten, den respektvollen Umgang mit Andersglaubenden, die klare Aufforderung, auf Gewalt zu verzichten und das Leben als geheiligt anzusehen, das unverfügbar bleibt - egal, für welche Ziele. Dieses Potenzial der gewaltfreien Konfliktlösung ist in allen Religionen vorhanden.

epd: Finden Sie, dass die Kirchen denn glaubwürdig für Frieden und Gewaltlosigkeit eintreten?

Fernando Enns: In der beispielsweise 2007 veröffentlichten Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland ist viel Kluges gesagt zum umfassenden Konzept des gerechten Friedens. Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten und nicht den Krieg, heißt es da. Dennoch: Ich wünsche mir, dass sich die EKD von einer Ultima-Ratio-Argumentation verabschiedet, wenn sie meint, militärische Gewalt theologisch legitimieren zu können für bestimmte Ausnahmesituationen. Das relativiert das Eintreten für den gerechten Frieden.

epd: Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten - was heißt das aus Ihrer Sicht?

Fernando Enns: Wer aufgrund seines christlichen Glaubens auf Gewaltfreiheit setzt, muss mit dem Gegner, mit dem Feind zusammen denken. Auch wenn dieser Feind bösartig erscheint, provoziert, Gewalt einsetzt. Es kommt darauf an, dann der Versuchung zu widerstehen, sich in eine Gewaltspirale hineinziehen zu lassen.

epd: Sie würden sich auch mit Terroristen an einen Tisch setzen?

Fernando Enns: Unbedingt. Weil ich gar keine andere Möglichkeit sehe. Wie soll ich denn sonst einen Konflikt lösen wollen? Dass das nicht ohne Risiko und manchmal auch nicht ohne Lebensgefahr geschieht, ist offensichtlich. Aber genau das haben wir auch, wenn wir meinen, uns hinter Waffensystemen verstecken zu können. Gewaltfreiheit braucht Mut. Und es gibt keine Erfolgsgarantie zur Lösung von Konflikten. Aber die gibt es beim Eintreten in eine Gewaltspirale und in eine Sicherheitspanik mit noch mehr Waffen und noch mehr Gewalt schon gar nicht.

epd: Und trotzdem sprechen immer mehr Politiker vom Krieg gegen den Terrorismus...

Fernando Enns: So ist es. Und ich kann es nicht begreifen, denn diese Kriegsrhetorik führt unweigerlich in eine Gewaltlogik mit der man glaubt, terroristische Aktivitäten unterbinden zu können. Doch das hat meines Erachtens noch nie zu einem Erfolg geführt - Erfolg im Sinne von tatsächlicher Befriedung. Also warum behandeln wir das, was wir leider in Frankreich und in Belgien sehen mussten, nicht als das, was es ist, nämlich als kriminellen Akt? Und für kriminelle Akte haben wir einen Rechtsstaat und eine Polizei, die völlig anders ausgebildet ist als das Militär. Die auf Aufklärung, Gewaltreduzierung, auf Gewalteindämmung ausgerichtet ist - und nicht auf eine Potenzierung von Gewalt.

epd: Um Gewaltspiralen die Kraft zu nehmen - wo muss Ihres Erachtens das Bemühen um Frieden beginnen?

Fernando Enns: Ich glaube nicht, dass es einen vorgeordneten und einen nachgeordneten Frieden gibt. Ich glaube, dass es im Bemühen um einen gerechten Frieden in der weltweiten Ökumene um Gleichzeitigkeiten geht - und um verschiedene Dimensionen des gerechten Friedens. Friede in der doch sehr ungerechten Wirtschaft, Friede in der Schöpfung, Frieden zwischen Völkern, Frieden in kleinen Gemeinschaften. Und was wir bisher vielleicht noch zu wenig beachtet haben, ist die Dimension des Friedens mit sich selbst, die für mich entscheidend ist. Denn nur, wer im Frieden, im Reinen mit sich selbst ist, strahlt Frieden aus und kann ihn weitergeben.

epd: Was kann das heißen? 

Fernando Enns: Ich glaube, dass zu einem gewaltfreien Verhalten auch eine gewisse Spiritualität notwendig ist, die wir nicht einfach so haben, sondern die wir einüben müssen, mit anderen zusammen. Sie macht uns stärker, macht uns Mut, rüstet uns aus mit einer Widerstandskraft gegen alle Versuchungen, Gewaltverheißungen zu erliegen. Spiritualität einüben, das kann für die einen heißen, sich auf einen Pilgerweg zu machen, für andere, sich in Gruppen zusammenzutun, um sich gegenseitig Mut zu machen. Und auch im Gebet, im gemeinsamen Gottesdienst, im Abendmahl liegen viel Kraft und Friedenspotenzial, denn an diesen Stellen geht es immer um die Versöhnung, die Gott uns schenkt. Gleichzeitig ist damit eine Einladung und die Aufforderung verbunden, Versöhnung unter den Menschen und mit der Natur zu stiften.

end-gespräch

Hintergrund

Der mennonitische Friedenstheologe Fernando Enns predigt an diesem Sonntag (18. September) im Abschlussgottesdienst des ökumenischen Stadtkirchentages auf dem Bremer Marktplatz.

Enns ist Leiter der Arbeitsstelle "Theologie der Friedenskirchen" am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg und Professor für Friedenstheologie und Ethik an der Theologischen Fakultät der Vrije Universiteit Amsterdam in den Niederlanden. Er ist Mitglied des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen und hat 2007 den Predigtpreis des Verlages für die Deutsche Wirtschaft bekommen. 

Mennoniten

Die Glaubensbewegung der Mennoniten entstand Ende des 16. Jahrhunderts. Die Freikirche ist nach dem niederländisch-friesischen Theologen Menno Simons (um 1496-1561) benannt. Die heutigen Mennoniten sind Nachfahren der Täufer-Bewegung, die auch als "linker Flügel" der Reformation gilt und - auch von anderen Protestanten - grausam verfolgt wurde.

Die Täufer setzten sich für radikalere soziale Reformen im Christentum ein, als etwa die Reformatoren Luther und Zwingli. Im 19. Jahrhundert wanderten viele Mennoniten aufgrund rechtlicher Beschränkungen und Verfolgungen in die USA und nach Kanada aus.

Heute sind die Mennoniten eine der historischen Friedenskirchen, weil sie schon früh gegen jede Form von Krieg und Gewalt ihre Stimme erhoben haben. Den Begriff "Wiedertäufer" weisen die Mennoniten als polemisch zurück. In Deutschland gibt es derzeit rund 40.000 Mennoniten und etwa 200 Gemeinden. 

epd