Startseite Archiv Tagesthema vom 09. Juli 2016

Reale Utopie

Andacht

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Die Gemeindesekretärin hat den Tisch voll liegen mit recht bunten Dokumenten. „Vorbereitung für die Taufen am Sonntag? Das ist viel Arbeit,“ sage ich mitfühlend. Sie seufzt: „Das ist gar nicht so schlimm. Aber bis ich all die Papiere habe, die ich dafür brauche!“ Sie denkt dabei an Geburtsurkunden, Patenscheine oder die Angabe des Taufspruchs.

Dreitausend Menschen wurden getauft – in unserem Gemeindealltag ist das gar nicht denkbar. 

Regionen werden in unserer Landeskirche gebildet, das Personal – Pastoren und Diakoninnen – wird weniger. Die Gemeindeschwester ist schon lange in die überregionale Diakoniestation integriert. Dabei können persönliche Bezüge verloren gehen.

Sie blieben beständig in der Gemeinschaft. Auch das ist in unserer Gemeindewirklichkeit immer weniger zu finden.

Wir erleben zähe Debatten beispielsweise um das Bundesteilhabegesetz zugunsten Behinderter. Wir erleben einen Austritt aus der EU unter anderem wegen des Zuzugs von Migranten. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.

Auch das ist in unserer Gesellschaft und den politischen Zusammenhängen nicht mehr zu finden.

Seien wir ehrlich: Lukas schildert in der Apostelgeschichte keine historische Urgemeinde, sondern ein Wunschbild. Und doch hat ein so geartetes Wunschbild zum Beispiel im Sozialismus Wirkungen gezeigt. Der allerdings ist an der Realität gescheitert.

Die katholischen Orden orientierten sich unter anderem an Franziskus von Assisi, der wiederum vom Wunschbild des Lukas bewegt war. Aber auch die Orden haben sich nicht von der Dynamik des Reichtums lösen können. Zudem sind sie abgesonderte Gemeinschaften – nicht die Kirche.

Den Himmel auf Erden gibt es nicht. Dennoch beschäftigt uns dieses Wunschbild weiter. Käme es sonst zu Debatten um die Verbesserung der Bedingungen für Behinderte? Was ist die Motivation für Pflegepersonal, Lehrerschaft, Polizei, Freiwillige oder Ehrenamtliche? Sie alle wollen sich einsetzen für eine wenigstens etwas bessere Welt als die gegenwärtige. Meist ist das orientiert an Wunschbildern und realen Utopien, wie Lukas sie beschreibt.

Ist es denn wirklich so schlimm bestellt um unsere Gegenwart, um unsere Gemeinden?

Schau hin! Da stehen nach dem Gottesdienst ein paar Leute vor der Kirche in der Sonne im freundschaftlich-gemeinschaftlichen Gespräch. Da kommt bei einer Taufe oder einer Trauung Rührung auf, Schmunzeln oder feuchte Augen.

Da erleben wir, wie ein befreundeter Mensch sich (und uns) in schwerer Krankheit auf den eigenen Tod vorbereitet. „Ich habe ein schönes Leben gehabt. Nun ist es genug.“ Ungesagt bleibt zwar: „Ich weiß ja, wohin ich gehe.“ Aber das steht im Raum und ist uns eine Ermutigung.

Wir brauchen also nicht zu verzweifeln, wenn die Urgemeinde der Apostelgeschichte nicht Realität war und werden kann. Kleine Zeichen gibt es immer, die Orientierung als Ziel bleibt. Der Himmel auf Erden ist zwar nicht offen, aber wir gehen darauf zu. Eines Tages werden wir – so Gott will – im Reiche Gottes leben. Dafür dürfen wir dankbar sein und uns in der Gemeinschaft im Brotbrechen stärken für die Dienste, die auf uns in dieser Welt warten. 

Oberkirchenrat i.R. Wolfgang Wild, Achim

Der Text

Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen, und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen. Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.

Aus Apostelgeschichte 2,41-47

Der Autor

Pastor i.R. Wild aus Achim.