Startseite Archiv Tagesthema vom 07. August 2015

Ungeweinte Tränen

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„Meine Mutter habe ich nie weinen sehen. Damals war ich zwei Jahre alt, als beim Großangriff auf Bremerhaven unser Haus vor unseren Augen abbrannte. Meine Mutter hatte nur mich auf den Armen. Mehr hatte sie nicht retten können“, erzählte mir meine Schwiegermutter. Ich fragte sie nun, 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, wie es wohl war in Deutschland, als so viele Städte in Schutt und Asche lagen. Wurde da viel geweint? „Nein, meine Mutter habe ich nie weinen sehen“, sagte sie dann. „Alles war weg. Wir hatten nichts mehr. Es ging eigentlich immer nur um die Fragen, wo kommen wir unter und was gibt es zu essen?“

Oftmals hatte seine Großmutter meinem Mann davon erzählt, von der Feuersbrunst in Bremerhaven, davon, wie fürchterlich alles war und einem Wunder gleich, dass sie mit ihrer Tochter das rettende Ufer der Weser erreicht hatte. Und das konnte sie erzählen, ohne eine Träne zu vergießen. Sie konnte einfach nicht weinen.

Jesus weint, lesen wir an diesem Sonntag im Predigttext. Er weint über die Zerstörung Jerusalems. Er sieht, was auf die Stadt zukommt: Kein Stein wird auf dem andern bleiben. Jesus weint für die Menschen, die großes Leid erfahren werden. Und er ist traurig, dass sie ihn nicht als Friedensbringer erkannt haben. So wie der Evangelist Lukas den Einzug Jesu in Jerusalem beschreibt, nehmen die Stadtbewohner überhaupt nicht wahr, dass mit Jesus Schalom in die Stadt einzieht und mit ihm sich erfüllt, was der Name Jerusalem verheißt: Nämlich Stadt des Friedens zu sein für alle Völker. Ausgerechnet diese Stadt, für die es stets schwer war und schwer ist, in Frieden zu leben, die seit jeher Ziel so vieler Ansprüche, Hoffnungen und Sehnsüchte ist.

Jerusalem ist für die drei Weltreligionen ein besonderer Ort. In biblischer Tradition steht die Stadt für Gottes verheißene Gegenwart bei den Menschen. Für Gottes Schalom. Jerusalem als Ort steht für Heil, Frieden und dafür, dass es einmal keinen Tod, kein Leid, kein Geschrei und keinen Schmerz mehr geben wird. Dass diese Gegenwart Gottes sich in der Person Jesu für alle Menschen erfüllt, wurde zu seinen Lebzeiten und zu allen Zeiten immer wieder verkannt.

Mit Wehmut und Trauer blicken wir heute in den Nahen Osten und sehen dort auf die zerstörten Städte, beispielsweise auf die Altstadt von Aleppo in Syrien, eine der ältesten durchgehend bewohnten Städte der Welt. Auch sie ist Opfer des Krieges. Auch dort wurde nicht erkannt, was dem Frieden dient.
Gerade das Jahr 2015 mit all den Krisenherden und Kriegen auf der Welt zeigt uns, wie das höchste Gebot mit Füßen getreten wird, „Gott von ganzem Herzen zu lieben und deinen Nächsten wie Dich selbst.“ Dennoch gilt es, diesem Gebot nachzuleben. Wo das geschieht, herrscht Friede, der tiefe Friede Gottes, der mehr ist als die Abwesenheit von Krieg und Gewalt.

In den Tränen Jesu sehe ich die zerstörten Städte und Opfer der Kriege zu allen Zeiten. Jesus weint über alle, die nicht erkannten, was dem Frieden dient, und er weint mit allen Opfern! Er weint mit denen, die selbst nicht weinen können, weil sie vom Anblick ihrer zerstörten Stadt wie gelähmt sind – so wie die Großmutter meines Mannes. Auch wenn sie nun nicht mehr lebt, kann es ein Trost für die Angehörigen sein, dass Jesus auch stellvertretend für sie geweint hat. Dass ihre ungeweinten Tränen in seinen Tränen ihren Ort haben – auch heute noch.

Dr. Hannegreth Grundmann

Der Text

 „Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist`s vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.“

Lk 19, 41-44

Die Autorin

Pastorin Dr. Hannegreth Grundmann ist Pressesprecherin des Sprengels Ostfriesland-Ems