Startseite Archiv Tagesthema vom 28. Mai 2015

Rausfahren, wenn andere reinkommen

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Noch dümpelt die „Hermann Rudolf Meyer“ ruhig am Kai im Alten Vorhafen in Bremerhaven. Plötzlich dringt ein dumpfes Grollen aus dem Bauch des Rettungskreuzers: Vormann Andreas Brensing startet die beiden Dieselmotoren, jeder 1.350 PS stark. Die Aluminiumkonstruktion des Schiffes bebt kurz, dann legt der Kreuzer ab zur Kontrollfahrt in ein Revier, das es in sich hat. Rund 2.000 Quadratkilometer Wasserfläche weiten sich vor seinem Bug.

Die mit modernster Rettungstechnik ausgestattete „Hermann Rudolf Meyer“ ist eines der leistungsfähigsten Schiffe der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS), die bis heute allein durch Spenden finanziert wird. Ende des Monats feiert sie mit ihrem Schirmherrn, Bundespräsident Joachim Gauck, in Bremen und Bremerhaven ihr 150-jähriges Bestehen, sie wurde am 29. Mai 1865 gegründet.

Zu jener Zeit gibt es kaum eine Chance, Schiffbrüchige zu retten. Im November 1854 strandet vor Spiekeroog das Auswandererschiff „Johanne“ im schweren Herbststurm. Wegen Ebbe können die Insulaner kein Boot ins Wasser setzen. In Sichtweite ertrinken 84 Menschen in tosender See. Sechs Jahre später, im September 1860, läuft die Brigg „Alliance“ auf das gefürchtete Borkum-Riff auf und sinkt in der Brandung. Die Insulaner eilen nicht zur Hilfe, weil sie fürchten, bei einem Rettungsversuch sich selbst und ihr Boot zu gefährden. Keiner der neun Seeleute an Bord des Seglers überlebt.

Die weitgehend unkartierte Nordsee mit ihren windgepeitschten Küsten, starken Strömungen und trügerischen Untiefen gilt als heimtückisches Revier, auch die Küstenbewohner können meist nicht schwimmen. Schätzungen zufolge geraten Mitte des 19. Jahrhunderts Jahr für Jahr mehr als 50 Schiffe allein vor den Inseln der deutschen Nordsee in Seenot. An der Ostsee sieht es nicht besser aus. Seenot gilt lange als unabwendbares Schicksal.

Katastrophen wie die der „Johanne“ und der „Alliance“ lassen den Steuermann und Navigationslehrer Adolph Bermpohl (1833-1887) nicht ruhen: Zusammen mit anderen ruft er dazu auf, „für Deutschlands Küsten Rettungsstationen einzurichten“. Sie sollen nicht vom Staat, sondern privat organisiert und durch Spenden finanziert werden.

Bermpohl ist überzeugt: Mutige Seenotretter setzen nur dann ihr Leben für andere ein, wenn sie Anteilnahme im ganzen Land spüren. 1865 ist es dann so weit. Einzelne regionale Vereine gründen in Kiel die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, Sitz wird Bremen.

In den ersten Jahren werden Schiffbrüchige zunächst mit Ruderbooten und Raketen geborgen, mit denen in Küstennähe eine Leine vom Strand zum verunglückten Schiff geschossen wird. Das sieht heute ganz anders aus: Allein die Reichweite der „Hermann Rudolf Meyer“ reicht von der stark befahrenen Außenweser bis in die Deutsche Bucht. „Wir haben hier die größten Containerschiffe der Welt, aber auch Freizeitskipper mit ihren Segelbooten“, sagt Vormann Brensing (55). Heute gibt sich das Revier des „Dampfers“ - wie die Crew ihre „Hermann Rudolf Meyer“ liebevoll nennt - außerordentlich zahm: Die Sonne strahlt, silbern glitzern die Wellen.

Mit Brensing sind auf der Station Bremerhaven neun Seenotretter fest angestellt. Vier von ihnen leben und arbeiten rund um die Uhr an Bord, 14 Tage lang. Eine Männer-WG auf Zeit. Anschließend haben sie genauso lange frei. Jede Woche wechselt jeweils die Hälfte der Besatzung. „Damit jeder mal mit jedem arbeitet“, sagt der Erste Maschinist Stev Klöckner (48). Im Ernstfall müssen sich alle aufeinander verlassen können.

Das fällt heute nicht schwer, denn die Tour bleibt ruhig. Mit langsamer Fahrt schiebt sich der Rettungskreuzer an riesigen Containerfrachtern der dänischen Maersk-Reederei vorbei, die an der kilometerlangen Bremerhavener Stromkaje von gewaltigen Portalkränen entladen werden. Nur die überall an Bord installierten Handläufe lassen erahnen, was los ist, wenn sich die „Hermann Rudolf Meyer“ bei Orkan durch Wasserberge pflügen muss.

„Bei drei, vier Meter Wellengang steht hier alles Kopf“, sagt Horst Danckert, „dann wird die Schwerkraft aufgelöst“. Der 73-Jährige fährt als Ehrenamtlicher mit. Auch er war bis zur Pensionsgrenze bei der DGzRS fest angestellt und gehört nun zu den etwa 800 Freiwilligen, die zusammen mit 180 Hauptamtlichen jährlich mehr als 2.000 Einsätze in Nord- und Ostsee stemmen. Dabei wurden allein im vergangenen Jahr 768 Menschen gerettet oder aus gefährlichen Situationen befreit. Seit Gründung der DGzRS sind es etwa 82.000.

„Wenn die Maschine ausfällt oder das Segel unklar ist und das Boot in die Fahrrinne der großen Pötte treibt, kann sich eine zunächst harmlose Situation schnell dramatisch entwickeln“, beschreibt Maschinist Wilm Willms (49). „Das ist besonders in den Sommermonaten unser tägliches Geschäft.“

In dieser Woche ist Willms nicht nur Seenotretter, sondern an Bord auch für das Essen zuständig. Schnitzel mit Kartoffelsalat, würziges Curry, Labskaus, Spaghetti Bolognese, am Sonntag Schweinebraten mit Rosmarin-Kartoffeln und Rotkohl - in der knapp zwei Quadratmeter kleinen Kombüse bereitet „Smutje“ Wilms das zu, was sich die WG wünscht. „Fünf Gänge gehen auch auf kleinstem Raum, das liegt nur am Willen“, sagt Danckert und lacht.

Am Mittag ankert die Crew in respektvollem Abstand zur Fahrrinne, immer mit einem Ohr am Funkverkehr. Die Seenotleitung der DGzRS-Zentrale in Bremen überwacht rund um die Uhr die internationalen Notruffrequenzen. Im Ernstfall kann die Besatzung der „Hermann Rudolf Meyer“ sofort starten. Das gilt auch für weitere 19 Kreuzer, die an Nord- und Ostsee stationiert sind und von 40 kleineren Rettungsbooten unterstützt werden. Sie verteilen sich auf 54 Stationen von Borkum bis Usedom - einer Küstenlinie, die in etwa der Entfernung von Berlin bis Nordgrönland entspricht.

Am Mittag ankert die Crew in respektvollem Abstand zur Fahrrinne, immer mit einem Ohr am Funkverkehr. Die Seenotleitung der DGzRS-Zentrale in Bremen überwacht rund um die Uhr die internationalen Notruffrequenzen. Im Ernstfall kann die Besatzung der „Hermann Rudolf Meyer“ sofort starten. Das gilt auch für weitere 19 Kreuzer, die an Nord- und Ostsee stationiert sind und von 40 kleineren Rettungsbooten unterstützt werden. Sie verteilen sich auf 54 Stationen von Borkum bis Usedom - einer Küstenlinie, die in etwa der Entfernung von Berlin bis Nordgrönland entspricht.

Wenn Stürme toben, andere im Hafen Schutz suchen, laufen die Retter aus. Und begeben sich dabei auch selbst in Lebensgefahr. Im Februar 1967 wird der Seenotrettungskreuzer Adolph Bermpohl bei Orkan nördlich von Helgoland von einer etwa 15 Meter hohen Grundsee begraben, einer Wasserwand, die urplötzlich durch das Auflaufen sturmgetriebener Wellen aus tiefem Wasser auf flachen Grund entsteht. Die vier Rettungsmänner an Bord und drei zuvor gerettete niederländische Fischer sterben. Insgesamt sind in der Geschichte der DGzRS 45 Seenotretter im Einsatz umgekommen.

Dieter Sell, epd

Kein Fall wie der andere

Für Björn Westermann (41) entwickelte sich im Januar 2002 ein dringender Schwangerentransport an Bord des Seenotrettungsbootes „Woltera“ mitten im Watt zwischen der Insel Juist und dem Festland zu seinem wohl schönsten Einsatz. Denn das Baby wollte einfach nicht warten. „Auf eine Geburt in der Enge an Bord und bei Seegang kann man sich kaum vorbereiten. Man macht alles ganz intuitiv“, erinnert sich der ehrenamtliche Seenotretter und Rettungssanitäter. Mit Hilfe des Vormanns und des Vaters kam der kleine Benjamin gesund an Bord zur Welt.

Belastend dagegen sind Erlebnisse wie etwa der Absturz eines Flugzeuges am zweiten Weihnachtsfeiertag 2001 in der Außenweser bei Bremerhaven. Die Seenotretter laufen aus, suchen tagelang nach Überlebenden. Sieben Passagiere und der Pilot sterben. Eine Frau überlebt schwer verletzt.

„Kein Fall ist wie der andere, es ist immer neu“, sagt der 73-jährige Horst Danckert. Heute blickt er vom Vorschiff aus ganz entspannt auf den Liegeplatz des Kreuzers am Alten Vorhafen, dem sich die „Hermann Rudolf Meyer“ nach knapp fünfstündiger ruhiger Patrouille in der Außenweser nun wieder nähert. Vormann Brensing will aber nur kurz anlegen und dann gleich wieder los, die Nacht über draußen sein. Immer startklar, um zu helfen. Und immer mit einem Ohr am Funk der Seenotleitung.

Dieter Sell, epd

Woche der Seenotretter

Die DGzRS feiert mit 60 Rettungskreuzern und -booten ihr 150-jähriges Bestehen. Zwei neue Schiffe werden zum Jubiläum Ende Mai getauft. Finanziert wird die gesamte Arbeit der Seenotretter mit einem Jahresetat von etwa 36 Millionen Euro nach wie vor ausschließlich durch freiwillige Beiträge und Spenden.

Am 29. Mai ab 13 Uhr ist das Geburtstagsfest mit Aktionen auf dem Bremer Marktplatz, unter anderem mit dem Schirmherrn der Seenotretter, Bundespräsident Joachim Gauck. Dort findet um16 Uhr auch die Taufe des neuen Seenotrettungsbootes SRB 65, das im holsteinischen Neustadt stationiert wird.

In den Havenwelten Bremerhaven ist am 30. Mai die Taufe des Seenotrettungskreuzers SK 35 (Seebäderkaje am Willy-Brand-Platz), der auf Amrum stationiert wird. Zudem läuft eine Geburtstags-Schiffsparade mit zahlreichen Rettungsschiffen aus dem In- und Ausland auf der Weser.

Ein öffentlicher Gedenkgottesdienst für alle auf See Gebliebenen soll am 31. Mai, um 11.30 Uhr in der Nähe des Schleusengartens gefeiert werden.

epd

Besuchermesse und Kongress

Vom 30. Mai bis zum 1. Juni findet die Fach- und Besuchermesse für maritime Sicherheit im Neuen Hafen/Bremerhaven statt.

Vom 1. bis 4. zum Juni gibt es den Kongress, sowie die Konferenz der International Maritime Rescue Federation (IMRF), des Zusammenschlusses der Seenotrettungsdienste aus aller Welt (Conference Center/Havenwelten Bremerhaven).

Orte

Seenotleitung und Zentrale der DGzRS in Bremen, Werderstraße 2, 28199 Bremen

Marktplatz Bremen und Konzerthaus Glocke/Domsheide, 28195 Bremen

Havenwelten und Neuer Hafen Bremerhaven, 27568 Bremerhaven